Individuelle Beziehungsgestaltung

Welche Bedeutung wird dem Faktor „Beziehung“ für die kindliche Entwicklung beigemessen?

Ist es wichtig, alle Kinder gleich zu behandeln?

Was beeinflusst die Charakterbildung eines Menschen?

Einflüsse auf den Charakter

Als ich Anfang der Siebziger Jahre Medizin studierte, hat man uns Studenten beigebracht, der menschliche Charakter forme sich durch die Gene und durch das Milieu. Aristoteles nannte es „Herkunft und Erziehung“. Das war das Paradigma jener Zeit.

Vor etwa 25 Jahren wurde die Beziehung als dritte die Entwicklung beeinflussende Kraft erkannt, die sich vor allem auf die Individualisierung des Kindes auswirkt. Würden nur Erbgut und Milieu wirken, müssten Menschen einander viel ähnlicher sein. Man fragte sich also, wie es kommt, dass Geschwister so unterschiedlich sind, obwohl Erbgut und Milieu oft ähnlich sind (vgl. Begabung und Behinderung: Wer spielt das Klavier der Gene?).

Der unterschiedlichen Qualität von Beziehungen ist es zu verdanken, dass sich in einer einzigen Familie desselben Milieus, derselben Religion, derselben Schule, bei demselben Tageslauf usw. die unterschiedlichsten Charaktere entwickeln. Das geht bis hin zu „schwarzen Schafen”, die sich mehr von den anderen Familienmitgliedern unterscheiden als Menschen, die gar nicht miteinander verwandt und unter völlig anderen Bedingungen aufgewachsen sind.

Angemessener Umgang mit der Unterschiedlichkeit

Manche Mütter behaupten, sie würden alle Kinder gleich behandeln. In Wirklichkeit können sie das gar nicht. Selbst wenn sie es täten, würden die Kinder ihre Behandlung dennoch ganz unterschiedlich erleben. Manchmal sagten Eltern zu mir, sie seien zu allen Kindern gleich streng. Dann antwortete ich immer: „Das ist ungerecht! Ihr legt an eure Kinder ein Einheitsmaß an, obwohl Fritz so empfindlich ist, dass er schon tief verletzt ist, wenn ihr nur ein wenig schimpft, während Lisa eine deutlichere Sprache vertragen kann. Kinder sind so unterschiedlich, man kann sie nicht alle gleich behandeln.”

Wenn man z.B. durchsetzen möchte, dass alle morgens um acht pünktlich am Tisch sitzen, muss man jedes Kind individuell behandeln, damit das klappt. Man kann das gewünschte Ergebnis nicht bei allen auf die gleiche Weise erreichen.

Das muss natürlich geübt werden und gehört zum täglichen Rüstzeug, wenn in einer Kindergruppe beispielsweise vier Babys, drei Kleinkinder und dazu noch einige „Große”, also Fünfjährige, beieinander sind.

Den Faktor Beziehung ernst nehmen

Wenn wir den Faktor „Beziehung” ernst nehmen, müssen wir fragen:

Wie gestalte ich die Beziehung zu jedem Kind so individuell, dass sich dieses Kind in seinem So-Sein angenommen fühlt, dass es mich als streng, aber auch als gerecht und liebevoll erlebt?

Wie mache ich im richtigen Moment eine Ausnahme, z.B. mit einem Lächeln, sodass ein Freiraum entsteht und gerade dieses Kind wieder Atem schöpfen kann?

Denn Erziehung muss merkuriell und flexibel vonstattengehen und wechseln zwischen Entgegenkommen und Grenzen-Setzen, Raum-Geben und Forderungen-Stellen. Diese Flexibilität kann sich nur entwickeln, wenn wir Kinder so lieben, wie sie sind.

Langzeitstudien belegen, dass die Frage, ob ein Kind mit seinen genetischen und milieubedingten, traumatischen Gegebenheiten zurechtkommt, davon abhängt, ob es einen Menschen findet, der es liebt, der es versteht, der es anerkennt, der es so nimmt wie es ist – der ihm ein seelisch-geistiges Zuhause gibt. Nicht ein Haus schenkt einem Kind Geborgenheit, sondern eine gute Beziehung, in der es sich zuhause und angekommen fühlt, durch sie es sich entfalten kann. Die ihm helfen kann, mit körperlichen und seelischen Lebenshemmnissen zurechtzukommen (vgl. Kindsein heute: Resilienz trotz Risiko).

Das lernt ein Kind nur mit anderen Menschen. Wenn es diese Menschen im Leben eines Kindes nicht gibt, nützen ihm die „schönsten“ Gene und die größte Intelligenz nichts. Trotz Intelligenz und wunderbaren Anlagen kann es auf Abwege geraten, wenn es den Weg der Entwicklung zur Freude und zur Menschlichkeit nicht findet, weil es ihn eben nur im Umgang mit anderen Menschen finden kann.

Vgl. „Die Würde des kleinen Kindes“, 3. Vortrag, Persephone, Kongressband Nr. 2