Christentum und Martyrium

Warum gehen Christentum und Martyrium von Anfang an Hand in Hand?

Das Christentum hat von Anfang an mit Martyrium zu tun, mit der Offenbarung des Bösen, vom Kindermord bis zur Kreuzigung. Das war undenkbar für die vorchristliche Spiritualität. Wir offenbaren das Martyrium, der gemarterte, gefolterte Mensch ist unser Gott und die „Mater dolorosa“, die ihren Sohn am Kreuz hängen sieht, wird verehrt. Das Böse spielt eine zentrale Rolle. Der Christus am Kreuz sagt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun.“1

Aufwachen für das Böse

In der nachchristlichen Zeit wurden wir uns unseres Tuns zunehmend bewusst. Deswegen sind wir heute auch in der Lage, das Böse zu erkennen und zu benennen. Wir können zwischen Gut und Böse unterscheiden. In der nachchristlichen Zeit, geht es darum, dass wir immer mehr aufwachen und unsere Augen nicht vor dem Bösen verschließen (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen), Wir brauchen einen Schulungsweg, der nicht in der alten vatergöttlichen Spiritualität wurzelt.

Ich persönlich kann jeden gut verstehen, der das Martyrium vermeiden will, der sich lieber nur an das Gute klammert. Aber die Zukunft gehört denen, die zur Entwicklung „Ja“ sagen, die bereit sind, das Böse zu erkennen und zu überwinden durch Erkenntnis (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Vom Umgang mit dem Bösen).

Der Ort, an dem ich das Böse am besten erkennen kann, bin ich selbst. Goethe sagt sinngemäß von sich: „Es gibt nichts Böses draußen in der Welt, wozu ich nicht auch die Veranlagung in mir selbst entdeckt habe. Und ich danke meinem gütigen Geschick, dass es mich immer davor behütet hat, dieses Böse auszuleben. Dass es mir die Kraft gegeben hat, die bösen Neigungen in mir zu halten und zu verwandeln.“

Goethe befasste sich von seinem 14. Lebensjahr an bis zum Alter von über 80 Jahren mit dem Thema „Faust“ – mit dem Menschen, der sich mit dem Bösen „zusammentut“ und es in jeder Lebensetappe auf einer anderen Stufe erkennen und überwinden muss (vgl. Begabung und Behinderung: Bewusstseinsseelenzeitalter – die neue Art zu denken).

Das Böse als Bedingung für Freiheit

Deswegen wird in Rudolf Steiners Buch über die innere Entwicklung2 das Böse klar benannt. Da wird vom Doppelgänger gesprochen, von den bösen Neigungen, die man erkennen muss. Ich kann gut verstehen, dass das den einen oder anderen abstößt, weil man denkt, Spiritualität müsse lieb und gut sein. Das ist auch so, aber wer die Freiheit begreift, versteht, dass man das Gute auch missbrauchen kann, dass man Gutes am falschen Platz tun kann.

Die Freiheitsfähigkeit des Menschen gibt dem Bösen Raum, sie ermöglicht aber auch die freie Entscheidung für das Gute. Nur weil uns die Freiheit als Entwicklungsauftrag für die Zukunft gegeben wurde (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte), haben wir eine Religion, die uns das Martyrium zeigt. Denn Leid macht nur Sinn im Hinblick auf die Freiheit, weil man dadurch lernen kann, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.

Vgl. Ausführungen vom IPMT in Santiago di Chile 2010

  1. Neues Testament, Lukas 23, 34.
  2. R. Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten? GA 10.