Notwendiges Umdenken im Gesundheitswesen

Wie müsste das Gesundheitssystem sich verändern, um zukünftig menschlichere Lösungen zu ermöglichen bei Pandemien?

Welche Veränderungen bräuchte es konkret?

Wo müssten sie ansetzen?

Was hat das Gesundheitssystem eines Landes mit dem Lockdown zu tun?

Berechtigung und Aufgabe des ersten Lockdowns

Diese letzte Frage ist leicht zu beantworten: Die Befürchtung, dass das Gesundheitssystem eines Landes nicht auf epidemisches Anwachsen von Lungenentzündungen mit möglicher intensivmedizinischer Intervention vorbereitet ist, hat den ersten Lockdown gerechtfertigt. Unter diesem Aspekt ist so eine Maßnahme auf Zeit vertretbar. Die dadurch gewonnene Zeit hätte genützt werden sollen, um die Versorgung mit Schutzmaterialien, Intensivbetten und vor allem medizinisch ausreichend geschulten Fachkräften sicherzustellen, aber auch die Qualität der Gesundheitsversorgung des Landes unter die Lupe zu nehmen und längst fällige und angemahnte Verbesserungen und Investitionen zu tätigen. Das „social distancing“ sollte dazu dienen, die Ausbreitung des neuen Virus zu verlangsamen uns alle auf das Risiko aufmerksam zu machen, damit sie sich ihrer Mitverantwortung im Sozialen bewusst werden. Gute Hygiene-Regeln empfehlen sich ja auch für jede Grippe-Epidemie.

In dieser Phase hätte überdacht werden sollen, wohin das „Kaputt-Sparen“ der Krankenhäuser infolge der Privatisierung geführt hat, ganz zu schweigen vom Notstand an Fachkräften in Pflege und Sozialen Diensten, der seit Jahrzehnten beklagt wird. All das sind Folgen der materialistischen und auf Gewinnmaximierung hin orientierten Denkweise, die auch unser Gesundheitswesen erfasste. Sie ist das Problem, das uns den Lockdown beschert hat. Um solche Szenarien in Zukunft zu vermeiden, ist ein grundlegendes Umdenken vonnöten. Man trieb die Digitalisierung voran, um mit ihrer Hilfe Lockdown-Probleme zu kompensieren und fraglichen und tatsächlichen Ansteckungen besser begegnen zu können. Mit ähnlicher Intensität müsste auch in ein gesundes Gesundheitswesen und gute fachliche und menschliche Betreuung investiert werden, das haben uns die Erfahrungen 2020 gelehrt. Mehr noch: Wollen wir eine „Gesundheitsdiktatur“ vermeiden, muss jeder Einzelne ein klares Bewusstsein dafür entwickeln, wovon individuelle und soziale Gesundheit abhängig sind, und wie ein Gesundheitswesen aussehen kann, das diesen Namen verdient.

Grenzen der Schulmedizin

Auch müssen wir ehrlich die Grenzen der Schulmedizin ins Auge fassen (vgl. Anthroposophische Medizin: Schulmedizin, AM und ältere ganzheitliche Ansätze). Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin vertritt das Konzept, dass Krankheiten Irrtümer der Natur sind, die man in dem Maß ausschalten kann, in dem man den Mechanismus ihrer Entstehung kennt. So segensreich es ist, wenn man Krankheiten effizient behandeln kann, so naiv mutet es einen an, wenn man die verschiedenen Ebenen kennt, von denen Kränkungen und Heilungsvorgänge ausgehen können, dass man meint, von der Krankheit im Physischen aus alles beherrschen zu können – ganz abgesehen davon, dass die menschengemachten Veränderungen unserer Lebensräume und das horrende Gefälle zwischen Arm und Reich sowie fehlende Erziehung und Bildung für die meisten Krankheiten und frühen Todesfälle verantwortlich sind und nicht irgendwelche Krankheitserreger.

Auch die Corona-Krise zeigt dies mit größter Deutlichkeit. So sinnvoll die physisch wirksamen Notmaßnahmen von Isolation und Schutz erst einmal sind, so verheerend wäre es, wenn nach diesem Muster eine neue Art von politisch-medizinwissenschaftlicher Form der Diktatur entstünde, die jeden Einzelnen in seiner Gesundheitsautonomie bis hin zur Entmündigung einschränkt. Die Instrumente dafür sind vorhanden und werden gegenwärtig erfolgreich erprobt. Viele alte Menschen würden – bei entsprechender Aufklärung – die Ansteckungsgefahr und die Möglichkeiten der Palliativmedizin als Alternative zur Intensivstation im Falle einer schweren Erkrankung klar bevorzugen. Viele würden mit Sicherheit sagen: „Meine persönliche Freiheit ist mir wichtiger als eine verordnete Sicherheit – selbst wenn mein Leben früher enden sollte.“ Ein Gesundheitswesen, das den Sinn und die Bedeutung von Krankheit und Tod im Leben eines Menschen nicht anerkennt, kann weder umfassend urteilen noch den individuellen Bedürfnissen von Erkrankten gerecht werden.

Den ganzen Menschen und seine Rechte miteinbeziehen

Warum sollte ein alter Mensch nicht das Recht haben, in ein Konzert zu gehen, auch wenn er weiß, dass er sich dort in einer Grippesaison anstecken kann?

Wer ist für die Gesundheit und die Art der Lebensführung eines Menschen verantwortlich?

Welche Risiken kann der einzelne selbst tragen, und wo greift der Schutzauftrag des Staates?

Die Coronapandemie macht deutlich, dass, wenn es um die Gesundheit der Bevölkerung geht, in Zukunft Formen gefunden werden müssen, die Bevölkerung hier mitentscheiden und mit beraten zu lassen. Bereits vor 100 Jahren sprach Rudolf Steiner von einer notwendigen Demokratisierung des Gesundheitswesens, von dem mündigen Patienten, der seine Gesundheit selbst mitverantwortet und – wie wir heute sagen würden – dem Arzt auf Augenhöhe begegnet (vgl. Anthroposophische Medizin: Notwendiger Paradigmenwechsel in der Medizin). Wir brauchen eine Erziehung zur Freiheit (vgl. Waldorfpädagogik: Waldorfpädagogik als Erziehung zur Freiheit) und ein rechtlich-politisches Leben, welches dafür die Rahmenbedingungen schafft. Sonst ist abzusehen, dass die Menschen zunehmend in Abhängigkeit geraten von den jeweils herrschenden autoritativen Ansichten der Wissenschaft und den politisch- wirtschaftlichen Machtstrukturen. Denn es geht um unser Recht, menschlich behandelt zu werden. So gesehen ist zu hoffen, dass Patientenverfügungen in Zukunft auch eine Klausel enthalten, über die man selbst festlegen kann, welchen Schutz zu welchen Bedingungen man annimmt bzw. dass man bei Verzicht auf gewisse Schutzmaßnahmen die entsprechenden Konsequenzen trägt.

Dass das heute nicht möglich ist, zeigt, dass die naturwissenschaftliche Medizin der Gegenwart um ein Menschenbild, das die geistige Dimension des Menschen (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Inkarnation – der Weg vom Geist in die Materie) und sein Recht auf Freiheit und Würde miteinbezieht, ergänzt werden muss, wenn Medizin menschlich bleiben und dem Menschen gerecht werden will. Das wird für die Schulmedizin einschneidende Folgen haben z.B. bei der Behandlung psychosomatischer Probleme.

Selbstverantwortung im Umgang mit Krankheiten

Dafür ein Beispiel: Selbstverständlich ist die Behandlung von akuten Symptomen wie Schlafstörungen, „nervösen Herzbeschwerden“, Magenschmerzen, Appetitproblemen, Unruhezuständen, Kopfschmerzen, depressiven Verstimmungen, Angstzuständen, Hass und Frustration mit Schmerzmitteln und Psychopharmaka erst einmal entlastend und hilfreich. Hat aber der Arzt körperliche Ursachen für die Symptome ausgeschlossen, sollte die Behandlung so nicht weitergeführt werden. Was in der akuten Situation durchaus sinnvoll sein kann, führt später unweigerlich in eine Sackgasse der Entwicklung und meist auch in medikamentöse Abhängigkeit.

Dem können wir nur durch einen selbstverantwortlichen Umgang mit unseren Erkrankungen begegnen. Denn wir Menschen sind nicht so geartet wie die Tiere, die von Natur aus alles richtig machen, die alles Lebensnotwendige sehr schnell können. Wir müssen von Anfang an alles eigenaktiv erlernen. Selbst die urmenschlichen Eigenschaften wie das Gehen, Sprechen und Denken werden uns nicht geschenkt. Aber auch so „natürliche“ Dinge wie guten Schlaf, gesunde Ernährung, ein menschlicher Umgang mit der Fortpflanzungsfähigkeit usw. müssen im Laufe des Lebens erlernt werden. Gleiches gilt für die seelischen Eigenschaften wie das Sich-Abgrenzen-Können, gesundes Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Konzentration, innere Ruhe etc. Wenn eine medizinische Denkweise Entwicklungsarbeit durch Medikamente zu ersetzen versucht, schadet sie dem Betreffenden mehr, als sie nützt.

Den Suchtfaktor der Medien durchschauen

Die bekannte britische Ökonomin und Kapitalismus-Kritikerin Noreena Hertz1 antwortete in einem Spiegel-Interview vom 2. Dezember 2020 auf die Frage, was die Regierungen in Bezug auf das Problem der Einsamkeit tun könnten:

Hertz: „Sie sollten die sozialen Medien stärker regulieren, vor allem wenn es um Kinder geht. Die sozialen Medien sind die Tabakindustrie des 21. Jahrhunderts. Verbietet die Netzwerke, die Kinder unter 16 süchtig machen.“

Der Spiegel daraufhin: „Klingt fundamentalistisch.“

Hertz: „Wissen Sie, dass viele Leute, die das Silicon Valley groß gemacht haben, ihren eigenen Kindern den Zugang zu Smartphones und Internet so lange wie möglich verbieten? Sie schenken ihren Kindern keine iPads und schicken sie auf die Waldorfschule (vgl. Medienpädagogik: Medienpädagogik und Erziehung zur Freiheit). Warum? Weil sie wissen, dass soziale Medien süchtig machen (vgl. Medienpädagogik: Negative Folgen einer zu frühen Gewöhnung an digitale Medien), denn sie kennen ja die Algorithmen. Je mehr diese Leute über soziale Medien wissen, desto weniger wollen sie, dass sie von ihren Kindern genutzt werden.2

Vgl. Michaela Glöckler, „Fragen und Überlegungen zur Corona-Krise aus medizinischer Sicht“, in: „Corona – eine Krise und ihre Bewältigung, Verständnishilfen und medizinisch-therapeutische Anregungen aus der Anthroposophie“, ISBN 9 783751 917919

  1. Noreena Hertz: The Lonely Century: Coming Together in a World that's Pulling Apart, London 2020.
  2. Aus: M. Glöckler (Hrsg.), Th. Hardtmuth, Ch. Hueck, A. Neider (Hrsg.), H. Ramm, B. Ruf, Corona und das Rätsel der Immunität. Ermutigende Gedanken, wissenschaftliche Einsichten und soziale Ideen zur Überwindung der Corona-Krise, 2020 Akanthos Akademie e.V., Stuttgart.

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