Denken und Leben in der Geschichte der Philosophie

Welchen Aufschluss gibt die Philosophie im Wandel der Zeiten über den Zusammenhang von Denken und Leben?

Was sagt Rudolf Steiner über den Zusammenhang von Denken und Leben?

Einträge aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie

Dieser Zusammenhang lässt sich eindrücklich nachverfolgen beispielsweise im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ zu den Stichworten ‚Denken’sup>1 und ‚Leben’.sup>2

A Definitionen von Denken in der Geschichte der Philosophie

  • Die ‚Alten’, d.h. die Vorsokratiker bis herauf zu Homer, haben – so Aristoteles„das Denken und das Wahrnehmen gleichgesetzt“3 – Hören, Sprechen, Denken ergänzten einander und wurden als Bewusstseinsinhalte einheitlich erlebt.

  • Erst bei Parmenides sei eine scharfe begriffliche Trennung vorgenommen worden.

  • Platon habe dies erkannt, jedoch daran festgehalten, dass Denken ein übersinnliches Schauen, d.h. eine geistige Wahrnehmung ist.

„Im ‚Phaidon’ antwortet er auf die Frage, wann die Seele die Wahrheit erfasse... [65b9], daß dies nicht durch den Leib und die sinnliche Wahrnehmung (αἴσθησις) geschehe, sondern daß ‚ihr im Überlegen, wenn überhaupt irgendwo, etwas vom Seienden offenbar wird’... [65c2f.] Das Wesen (οὐσία) einer Sache erkennt man, indem man über sie nachdenkt... [65e2–4]. Dies aber vermag am reinsten, wer ‚mit dem Denken selbst’,... ohne irgendeine sinnliche Wahrnehmung ‚beim vernünftigen Überlegen’... hinzuzuziehen, sich einem jeden Ding selbst in seiner Reinheit zuwendet..., sozusagen ganz ohne den Leib, weil ‚der Leib die Seele verwirrt und sie die Wahrheit und vernünftige Einsicht nicht erlangen läßt, solange er mit ihr Gemeinschaft hat’... [65e6–66a6]“4

  • Während für Descartes in seinem berühmten „Ich denke – also bin ich“ 5 das eigene Dasein noch durch das Denken Realitätscharakter bekommen konnte,

  • tritt bei Kant die ‚reine Vernunft’ an die Stelle der platonischen Ideen, als eine transzendentale Vorstellung sei eine scharfe vorgenommen worden.

  • Damit ist seine Philosophie zwar anschlussfähig für die deutschen Idealisten Fichte, Schelling und Hegel. Anders als Kant beschreiben diese dann aber auf unterschiedlichen Gedankenwegen das ‚Ichsein’ und damit das eigene Seinserlebnis als transzendentale Subjekterfahrung.

„Hegel anerkennt als das Epochemachende der Philosophie seit Descartes und Kant die Einsicht, dass Denken Tätigkeit des Subjekts ist: ‚Das Denken als Subjekt vorgestellt, ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich.’ [Enzykl § 20]“ 6

Nach Hegel tritt dann aber diese ontologische Dimension der Selbsterfahrung im Denken in den Hintergrund.

  • Daher wendet sich die Darstellung im Wörterbuch im weiteren Verlauf den sprachanalytischen Konzepten zu bis hin zu Wittgenstein,

  • den geisteswissenschaftlichen Analysen von Husserl und Heidegger

  • und der zunehmenden Formalisierung und Mathematisierung der Leistungen des Denkens bis in die Gegenwart.7

Rudolf Steiners Philosophie findet dort keine Erwähnung. Er ist der Entwicklung des denkenden Bewusstseins in seinen Rätseln der Philosophie von den Anfängen bis in seine Gegenwart nachgegangen. 8

  • Steiners historische Gesamtübersicht findet im Ausblick auf die imaginative Fähigkeit eines ‚erkrafteten’ Denkens, das zu einem ‚leibfreien’ und damit ‚übersinnlichen’ Schauen wird, seinen Abschluss.

B Definitionen von Leben in der Geschichte der Philosophie

  • Leben nach Aristoteles und Thomas von Aquin

Nach Thomas von Aquin ging bei der Bestimmung des Lebens aus „von der aristotelischen Bestimmung des Lebens als der Seinsweise derjenigen Seienden, die der Selbstbewegung fähig sind.“ Dies ermöglichte es, „Wahrnehmungs- und Denkakte als Selbstbewegung zu fassen und ihren Subjekten Leben zuzuschreiben. Aus dem je verschiedenen Ausmaß der Selbstverfügung des Lebenden über die Bedingungen seiner Selbstbewegung leitet Thomas verschiedene Stufen des Lebens ab: Pflanze, Tier, Mensch, Gott.9 Die gleichen Stufen erklärt er aus dem je verschiedenen Maß der Immanenz der Lebensakte.10 Die höchste Stufe des Lebens ist in Gott verwirklicht, insofern seiner Selbstbewegung keine außergöttlichen Bedingungen vorgegeben sind und insofern seine Lebensakte den höchsten Grad der Immanenz besitzen… Dieses Leben bestimmt er als ein Erkanntwerden. Leben wird so zu einer transzendentalen Seinsbestimmung. Während die transzendentale (ontologische) Wahrheit die Erkennbarkeit des Seienden meint, zielt ‚vita’ auf dessen faktische Erkanntheit. Dieser thomasische Ansatz ist weder von Thomas selbst noch von späteren Denkern des Mittelalters systematisch ausgewertet worden.“ – so Vennebusch in seinem Beitrag zum Stichwort ‚Leben’ im Wörterbuch.11

  • Identität von Leben und Denken nach Steiner

Dass Rudolf Steiner die Identität von Lebens- und Denktätigkeit in seiner Anschauung von der ätherischen Organisation als sowohl leibbildend als auch leibfrei der gedanklichen Reflexion dienend zum Zentrum seiner praxistauglichen Menschenkunde macht, wird auch hier nicht erwähnt.

  • Zusammenhang von Leben und Denken Mitte bis Ende 20. Jhdt

Seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutieren Philosophen erneut die Frage des Zusam-menhangs von Leben und Denken (allgemeiner: Bewusstsein). So wiesen Hans Jonas12, Viktor von Weizsäcker13, Robert Spaemann, Reinhard Löw14 und Thomas Fuchs15 darauf hin, dass das Verständnis des Lebendigen die Selbsterfahrung im eigenen, lebendigen Körper voraussetzt. Der kanadische Philosoph Evan Thompson schrieb von einer „tiefen Kontinuität“ zwischen Leben und Bewusstsein, da sowohl das Leben als auch das denkende Bewusstsein sich in sinnvoller und sinnschaffender Weise nach autonomen Kriterien selbst organisieren. Denken kann deshalb als eine „innere, bewusste Erfahrung“ des Lebens angesehen werden.16

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 202517

  1. Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 59–104.
  2. Vgl. Hadot u. a. (1980), S. 51–103.
  3. Aristoteles, De anima, S. 427.
  4. Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 63f.
  5. Descartes (2009), Meditation (II, 3).
  6. Vgl. Bormann u. a. (1972), S. 91.
  7. Vgl. ebd., S. 92–104.
  8. Vgl. dazu SKA 4.
  9. [S. theol. I, q. 18, a. 1–3]
  10. [S. contra gent. IV, 11.]
  11. Vgl. Vennebusch in: Hadot u. a. (1980), S. 61.
  12. Jonas (2011).
  13. V. v. Weizsäcker (1960).
  14. Spaemann und Löw (2005).
  15. Fuchs (2021).
  16. Vgl. Thompson (2007) und Hueck (2023).
  17. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.