Sinn für Kohärenz durch salutogenetische Pädagogik

Was ist Kohärenzgefühl und wie wird es erworben?

Entwicklung von Kohärenzgefühl

Der „Sense of Coherence“, der Sinn für Kohärenz bzw. das Kohärenzgefühl ist laut Aaron Antonovsky, dem Begründer der Salutogenese, „eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass erstens die Anforderungen aus der inneren und äußeren Erfahrungswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind und dass zweitens die Ressourcen zur Verfügung stehen, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.“1

Egal, ob dieses Vertrauen-Können nun angeboren ist oder nicht, es braucht auch eine Pädagogik, die die Individualität des Kindes im Blick hat, es braucht Lehrer, die ihre Schüler zu verstehen bemüht sind und die ihnen auch Räume zum Selbstlernen eröffnen (vgl. Gesundheit: Salutogenese und Pädagogik). Erst wenn die Welt durch eine solche entwicklungsbegleitende Pädagogik verständlich, sinnvoll und handhabbar wird, kann das Vertrauen des heranwachsenden Menschen in sich und seine eigenen Entwicklungsweg so gefestigt werden, dass es zu einem verlässlichen Lebensanker wird (vgl. Gesundheit: Das Kohärenzgefühl als Grundlage seelischer Gesundheit). Antonovsky sprach von drei Komponenten des Sinnes für Kohärenz - vom

  • sense of comprehensibility (Gefühl der Verstehbarkeit),
  • sense of meaningfullness (Gefühl der Sinnhaftigkeit)
  • und sense of manageability (Gefühl der Handhabbarkeit).

Entwicklung von Kohärenzgefühl

Was tragen Eltern, Erzieher und Lehrer dazu bei, dass Kinder diese überlebenswichtigen Gefühle in sich verankern können?

Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.

  • 1. Entwicklung des Gefühls, die Welt zu verstehen

Viele seelische Probleme kommen aus einem tiefsitzenden Gefühl des Ungenügens, etwas - beispielsweise Mathematik – in der Schule nicht zu verstehen oder „nie“ verstanden zu haben. Mit dem Gefühl, nicht zu verstehen, geht auch ein Stück Selbstachtung verloren, was sich kränkend auswirken kann. Umgekehrt verleiten dieses Ohnmachtsgefühl und Unverständnis zu unkritischer Bewunderung anderer Menschen, von denen man leicht glaubt, dass sie „voll durchblicken“. Dadurch können Illusionen und Abhängigkeiten von Menschen entstehen, was ebenfalls nicht gesundheitsfördernd ist. Der Betroffene will sich der Anstrengung nicht unterziehen, selbst urteilsfähig zu werden, und stagniert dadurch in seiner Entwicklung. Leben und Gesundheit sind aber Entwicklung, Verwandlung, Regsamkeit.

Kennt ein Lehrer diese Problematik, so wird er zum Wegbegleiter der Schüler und lernt von ihnen, wie er sie am besten unterstützt – nämlich genau da, wo deren Lernblockade sitzt. Je mehr er sich für diese individuellen Lernblockaden seiner Schüler interessiert, desto besser kann er sie verstehen und auflösen helfen (vgl. Waldorfpädagogik: Lehrertugenden und Professionalität).

  • 2. Entwicklung des Gefühls der Sinnhaftigkeit allen Geschehens

Nicht alles, was wir verstehen, erscheint uns auch sinnhaft. Wie viel Schreckliches geschieht stündlich auf unserem Globus – geschuldet den unendlich tragischen Erziehungs- und Entwicklungsdefiziten. Die Sinngebung fällt schwer. Es braucht eine große Entwicklungsperspektive, die Generationenübergreifend ist, um damit zurechtzukommen. Goethe drückt es in einem seiner Epigramme so aus: „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben.“

Es ist kein Luxus, sich mit Sinnfragen zu beschäftigen. Es geht auch nicht um Selbsttröstung oder religiöses Wunschdenken. Es geht darum, dass ein wiederholtes Erleben von Ohnmacht und Sinnlosigkeit gesundheitsschädigend ist. Daher braucht es wahrhaftige, motivierte Sinnsuche, wie sie sich am leichtesten am ehrlichen Menschen- und Geschichtsinteresse entzündet. Nicht nur der einzelne Mensch und die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln sich – auch die Menschheit als Ganzes ist in einem ständigen Entwicklungsprozess begriffen. Mit ihr und ihrem historischen Werden kohärent zu sein, ist heilsam. Wer nicht ein dankbares „Kind seiner Zeit“ sein kann, dem fehlt ein wichtiger Gesundheitsfaktor.

Daher braucht es an den Schulen richtigen Geschichtsunterricht und nicht nur Sozialkunde. Jedoch sollte es ein Geschichtsunterricht sein, der nicht (nur) aus dem Memorieren von Zahlen und Ereignissen besteht, sondern auch die großen Kultur- und Entwicklungsepochen der Menschheit im Blick hat. Im Hinblick auf die Frage, welchen Einfluss sie auf das heutige Geschehen hatten, können sich auch Identifikationsmöglichkeiten mit dem Menschheitsganzen bilden. Sinnhaftigkeit wird immer dann erlebt, wenn man etwas, was geschieht oder von dem man Kenntnis hat, so einordnen kann, dass es für einen selbst einen Sinn ergibt (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Sinnfindung als Weg der Heilung). Alles Leben findet in einer Um- und Mitwelt statt. Kann man diese als sinnvoll erleben, so fühlt man sich gut. Sich nicht gut zu fühlen, ist eine der häufigsten Ursachen für den Gebrauch und Missbrauch von Drogen und Medikamenten.

  • 3. Entwicklung des Gefühls handlungsfähig zu sein

Wenn man etwas verstanden hat und es auch einen Sinn ergibt, ist es wichtig das Gefühl zu haben: Wenn ich wollte, könnte ich mich dafür einsetzen und etwas dazu beitragen oder sogar selbst Initiative ergreifen. Das Gefühl des Unvermögens, der Ohnmacht, der eigenen „Untauglichkeit“ lähmt und macht krank. Hingegen ist es förderlich für die Gesundheit, die eigenen Möglichkeiten gut zu kennen und sie, wo immer möglich, zu erweitern. Auch geistige Arbeit, Mitdenken mit anderen, Fürbitte und gute Wünsche gehören hierher. Viel mehr, als wir äußerlich tun können, vermögen wir seelisch-geistig zu leisten, wenn wir uns verbunden fühlen mit denen, die Wichtiges tun und leisten, und wir sie innerlich mit guten Gedanken begleiten.

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten?, GA 10, 24. Aufl. Dornach 1992.