Salutogenese und Pädagogik

Salutogenese hat zum Ziel, den Menschen auf die Quellen individueller und sozialer Gesundheit und Gesundung aufmerksam zu machen und verknüpft damit Medizin und Pädagogik auf einzigartige Art und Weise: Das Interesse von Ärzten und Pädagogen wird primär auf die Frage gelenkt, wie Gesundheit entsteht, und somit weg von der Fixierung auf die mögliche Herkunft von Störungen oder Problemen. Der Blick ist damit auf das Positive gerichtet, auf das, was Kinder mitbringen, was sie stärken und schützen kann und was sie letztlich unverwundbar im Kern ihrer Persönlichkeit und aktiv in der Gestaltung ihres Schicksals sein lässt. Angesichts der vielfältigen Nöte und Schadensquellen, denen Kinder heute in ihrer Entwicklung ausgesetzt sind, eröffnet diese Betrachtung ein konstruktives, zukunftsorientiertes Handeln.

Jeden Menschen als Teil des Ganzen betrachten

Rudolf Steiner (1861-1925) forderte bereits 1920 in einem Vortrag für Ärzte, dass der Arzt „das Heil der ganzen Menschheit“ im Auge haben müsse, wenn er einem einzelnen Menschen helfen will.1 Warum? Weil jeder Mensch ein Teil des Ganzen ist, das er beeinflusst, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – einfach durch die Art, wie er innerlich und nach außen hin mit sich und den anderen Menschen umgeht. Jeder ist aktiv beteiligt an der Entwicklung von Erde und Menschheit.

  • Je mehr es gelingt, aus einer umfassenden Perspektive heraus zu handeln, umso mehr trägt man zum Heil und zum Gedeihen des Ganzen bei.

  • Je isolierter man ist, und je unzusammenhängender man handelt und arbeitet, umso mehr läuft man Gefahr, ein Krankheitsfaktor im Entwicklungsgeschehen zu werden.

Gesund, heil und ganz zu werden bedeutet Integration. Krankheit ist stets die Folge von Isolation oder Desintegration einzelner Prozesse, Funktionen oder Substanzen im Organismus.

Unsere Aufgabe ist es also, mit unseren kleinen Aktionen, unserem täglichen Tun die großen Ziele der Menschheit mit zu verfolgen und sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Das fängt bei der Erziehung unserer Kinder an, die in eine Welt hineingeboren werden, der sie gewachsen sein möchten und in der sie ihre Impulse verwirklichen wollen.

Das Leben als Fluss

Antonovsky vergleicht das Leben mit einem Fluss, der Untiefen haben kann, Stromschnellen, Klippen, die er überwinden muss und überdies noch mit Verschmutzung zu kämpfen hat. Seine Frage ist nicht – Wie entkomme ich den Gefahren, wenn ich mich in dem Fluss befinde? – sondern: Wie werde ich ein guter Schwimmer? Knapper kann man den salutogenetischen Ansatz nicht ins Bild bringen.

Antonovskys Antwort auf diese Frage ist: Durch die Entwicklung eines guten Kohärenzgefühls ist man den Stromschnellen und -wirbeln des Lebens, in das man sich wie hineingeworfen erlebt, gewachsen. Wer ins Wasser geworfen wird, muss schwimmen lernen oder es bereits gelernt haben. Wer lebt, muss lernen, sich in Beziehung zu setzen. Die Grundlagen dafür können und sollten in der Kindheit gelegt werden.

Es wird immer Schwierigkeiten im Leben geben, Probleme, Leiden und Tod. Menschen mit starkem Kohärenzgefühl werden ebenso leiden und sich freuen wie alle anderen. Sie werden aber motiviert sein, das Beste aus der gegebenen Situation zu machen. Sie werden sich weder von ihrer Freude fortreißen lassen, noch im Leid erstarren.

Was erfolgreich macht

Erfolg ist weitgehend von der Intelligenz, dem Wissen und den Fähigkeiten abhängig, die jemand mitbringt. Aber gerade, wenn die Aufgabe anspruchsvoll ist, wird auch die Stärke des Kohärenzgefühls eine Rolle spielen. Ein Mensch mit starkem Kohärenzgefühl wird motiviert sein, die Aufgabe als eine Herausforderung zu sehen, ihr eine Struktur zu geben und nach geeigneten Ressourcen zu suchen, um sie zu bewältigen, auch wenn er die dafür nötigen Qualifikationen noch nicht besitzt. Das Vertrauen, dass er es schaffen kann, lässt ihn Dinge erstreben und leisten, die sich ein Mensch mit schwachem Kohärenzgefühl nie zutrauen, die er nie angehen würde.

Die Anthroposophie als Wissenschaft von Seele und Geist des Menschen kann bis in Einzelheiten an dieses salutogenetische Gesundheitskonzept anknüpfen. Sie erlegt damit aber auch den anthroposophischen Pädagogen und Ärzten die Verantwortung auf, durch eigene Forschungen mit beizutragen, dass die salutogenetische Perspektive eine weite Verbreitung und Realisierung findet. Das kann entscheidend dazu beitragen, die Wirklichkeit des Geistes in die naturwissenschaftlich-medizinische Debatte mit einzubeziehen und sie nicht als „transzendent“ auszuklammern oder den Psychologen, Theologen und Philosophen allein zu überlassen.

Leben als Chance für die eigene Entwicklung begreifen

Denn die Gesundheit des modernen Menschen hängt entscheidend davon ab, wie er über sich als Mensch denkt und welchen Entwicklungsweg er geht. Jeder kann lernen, gesünder und menschlicher zu werden, wenn er sich die göttlich-geistigen Daseinsbereiche in sich selbst bewusst macht und „erweckt“. Selbstentwicklung, so verstanden, bedeutet lebenserfahren zu werden und das Leben in all seinen Facetten, in seinen Höhen und Tiefen neu zu entdecken und ernst zu nehmen als Chance für die eigene Entwicklung und die der Mitmenschen hin zur Menschwerdung, die diesen Namen verdient. Nur so können letztlich menschliche Charaktereigenschaften erworben werden wie Verehrung, innere Ruhe, Mut und Zuversicht, Hoffnung, Treue, Andacht, Liebe und Wahrhaftigkeit bis hin zu Autonomie und Authentizität.

In seinem philosophischen Hauptwerk resümiert Steiner: „Die Natur macht aus dem Menschen ein Naturwesen. Die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes. Ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen.“2

Mit dieser selbst errungenen Freiheit steht und fällt die heute so hoch bewertete Sozialkompetenz. Nur wer zu sich selbst stehen kann, lernt das auch anderen gegenüber. Nur wer auf sich selbst gestellt ist, kann letztlich für andere Menschen oder Aufgaben zur Verfügung stehen, ohne Sorge haben zu müssen, untergebuttert oder „benützt“ zu werden. Er kann nach dem Motto des freien Menschen leben: „Leben in der Liebe zum Handeln und leben lassen im Verständnisse des fremden Wollens.“3

Vgl. „Kindsein heute, Schicksalslandschaft aktiv gestalten“, Stuttgart – Berlin 2003

  1. Rudolf Steiner, „Geisteswissenschaft und Medizin“, GA 312, 6. Aufl. Dornach 1985.
  2. Rudolf Steiner, „Die Philosophie der Freiheit“, GA 4, 15.Aufl. Dornach 1987.
  3. Rudolf Steiner, a.a.O.