Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit

Rudolf Steiner verfolgte konsequent die Thesen einer Erziehung zur Freiheit und einer Lehre von Gesundheit, die auf der Auseinandersetzung mit den Herausforderungen des Lebens auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene basiert. Beide Thesen erfahren auf vielfältige Weise Bestätigung durch:

Erforschung von Gesundheit

Maslow fand bei seinen Untersuchungen zur seelischen Gesundheit heraus, dass Menschen mit einer gesunden seelischen Gesamtverfassung sach- und nicht ich-bezogen handeln, dass sie tolerant und wahrhaftig sind, sich herzlich freuen, staunen und Dinge und Menschen bewundern können und dass sie Gefühle von Devotion aufbringen. Allen ist gemeinsam, dass sie auf die eine oder andere Art eine spirituelle Höhepunkt-Erfahrung, eine so genannte Peak-Experience, gemacht haben.

Maslow konnte zeigen, in wie hohem Maße die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und die persönliche Reife Einfluss auf den körperlichen Gesundheitszustand haben.1

Antonovsky entwickelte in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Theorie der Salutogenese. Er untersuchte die Entstehungsbedingungen für Gesundheit und prägte in dem Zusammenhang den Begriff „Sense of Coherence“ – Kohärenzgefühl. Um Kohärenzgefühl empfinden zu können, muss ein Mensch die Welt als

  • verstehbar,
  • sinnhaft
  • handhabbar

erleben.

Entwicklungsgeschichte der Salutogenese

Aaron Antonovsky war jüdischer Abkunft und wurde 1923 in Brooklyn geboren. Er emigrierte 1960 mit seiner Frau nach Israel. Als Zeitzeuge des Zweiten Weltkriegs musste er erleben, dass viele Verwandte und Menschen seines Umkreises Traumata und Schäden aufgrund des Holocaust erlitten oder in Konzentrationslagern vernichtet wurden. Als Medizinsoziologe beteiligte er sich dann in Israel an verschiedenen Forschungsprojekten, die sich mit dem Zusammenhang von Stressfaktoren und Gesundheit bzw. Krankheit befassten. Bald vertrat er ein Stresskonzept, in dem Stressfaktoren nicht mehr nur als grundsätzlich krankmachend angesehen werden, sondern als Herausforderung, als Stimuli, die einen Zustand der Anspannung auslösen. Damit kam er auf die psychologische Fragestellung nach individuellen Verarbeitungsmustern und -möglichkeiten angesichts solcher Anspannungszustände.

Ausschlaggebend für seine weitere Forschungstätigkeit waren Überlegungen aufgrund von Untersuchungen über die Auswirkung der Wechseljahre bei Frauen der Jahrgänge 1914-1923, die teilweise in einem Konzentrationslager inhaftiert gewesen waren.

Im Rahmen seiner Untersuchungen stellte er überrascht fest, dass eine beträchtliche Anzahl Überlebender des Holocaust, die, wie alle anderen auch, die Grausamkeiten des Konzentrationslagers erlitten und anschließend in Israel weitere drei Kriege überlebt hatten, über eine Art „Übergesundheit“ verfügten. Trotz all dem, was diese Menschen durchgemacht hatten, beeindruckten sie durch ihre große Ausstrahlung, ihre seelische Unversehrtheit und Gesundheit. Das ließ ihn fragen:

Wie ist so etwas möglich, das aller Vernunft und allen traumatologischen Theorien widerspricht?

Wie haben diese Frauen es geschafft, den Extrembelastungen standzuhalten und gesund zu bleiben, anstatt an Leib und Seele Schaden zu nehmen oder gar zu zerbrechen?

Die Antworten auf diese Fragen führten zu dem entscheidenden Perspektivenwechsel in Richtung Salutogenese, der seine ganze weitere Forschungstätigkeit bestimmte. So fing er an, systematisch die Bedingungen für Gesundheit zu untersuchen.

Die Frage nach der Gesundheit

Was aber ist Gesundheit eigentlich?

Jeder in der Gesundheitsforschung Tätige kommt früher oder später zu der Überzeugung, dass Gesundheit ein labiler Zustand ist, der vom Individuum aktiv erhalten werden muss. Diese Auffassung steht im Gegensatz zum konventionellen, pathogenetischen Postulat, dass ein gesunder Organismus sich in „normaler", geordneter Homöostase befindet, die durch eine Krankheit aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Antonovsky stellt dem entgegen, dass es den geordneten Zustand der Homöostase nicht gibt, dass Gesundheit vielmehr das ständige Ringen mit heterostatischen Zuständen ist.

Er schreibt: „Zu jedem Zeitpunkt kann mindestens ein Drittel, möglicherweise mehr als die Hälfte der Bevölkerung in den Industrienationen aufgrund des einleuchtenden Parameters eines pathologischen Merkmals als krank bezeichnet werden. Das zeigt, dass Krankheit keine relativ seltene Abweichung irgendeiner Norm, sondern ein ubiquitäres Phänomen ist".2

Gesundheit ist so gesehen nicht die Abwesenheit von Krankheit, sondern die Beherrschung und Kompensierung vorhandener Krankheitstendenzen. Für diese gesundheitswissenschaftliche Sicht bietet das Konzept der Wesensglieder und ihr differenziertes Zusammenwirken im dreigliedrigen Organismus das notwendige theoretische und praxisrelevante Instrumentarium. Hinzu kommt, dass das Wesensgliederkonzept bisher das einzige Konzept ist, das den Leib-Seele-Geist-Zusammenhang gedanklich begreifbar machen kann und plausible Gründe liefert, die uns die These von der „Blackbox" hinterfragen lassen.

Vgl. Einleitung „Anthroposophische Arzneitherapie für Ärzte und Apotheker“, Loseblattsammlung mit 4. Aktualisierungslieferung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2012

  1. Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.
  2. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.