Paradigmenwechsel von Pathogenese zu Salutogenese

Inwiefern bestimmte die Pathogenese das medizinische System des letzten Jahrhunderts?

Was sind die Vorteile des salutogenetischen Ansatzes?

Welche Schritte in Richtung Salutogenese haben bereits stattgefunden?

Warum bleibt die großflächige Umsetzung eine soziale, politische und wirtschaftliche Herausforderung?

Entwicklungen in der Pathogenese im letzten Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die fortschrittliche Medizin ebenso pathogenetisch orientiert, wie es der heutige Mainstream der Medizin immer noch ist. Medizinstudenten und Ärzte stellen immer wieder erstaunt fest, wie wenig auch heute noch im Zuge des Medizinstudiums über die Entstehung von Gesundheit, die Salutogenese, gelehrt wird – ganz im Gegensatz zur Aufklärung über die Entstehung von Krankheit, die Pathogenese. Damals verstand man hygienische Maßnahmen, genügend Schlaf, gesunde Ernährung und eine vernünftige Lebensführung als hauptsächliche Garanten für ‚Volksgesundheit‘.

Mit dem Aufkommen des neuen Paradigmas moderner Zellularpathologie ging es zunehmend darum, pathologische Prozesse diagnostisch bis auf die molekulare Ebene im Zellstoffwechsel zu erforschen. Damit hat der pathogenetische Ansatz der naturwissenschaftlich basierten Medizin bzw. Schulmedizin gegenwärtig einen gewissen Kulminationspunkt erreicht, der in Zukunft mithilfe der Digitalisierung noch übertroffen werden wird.

Heutiger Kulminationspunkt der Pathogenese in der Medizin

Die Herausgeber des Standardwerkes „Biochemie und Pathobiochemie“ bringen diesen Tatbestand in ihrem Geleitwort so auf den Punkt:

„Heute ist es möglich, das Transkriptionsmuster (‚Transkriptom‘) sogar einer einzelnen Zelle in ihrem normalen oder pathologisch entarteten Funktionszustand zu bestimmen. Darüber hinaus zeichnet sich die möglichst vollständige räumliche und zeitliche Analyse des Transkriptoms von einzelnen Zellen oder Zellverbänden ab.

Dies ermöglicht ein detailliertes Studium der Dynamik eines normalen oder pathologisch entartenden Differenzierungsvorganges eines Gewebes. Für die Medizin bedeutet diese Entwicklung, dass vor allem von denjenigen normalen oder krankhaften Prozessen, bei denen weniger die Struktur und auch nicht der Stoffwechsel der Zelle im Vordergrund stehen, sondern vielmehr das digital kodierte Regulationsnetzwerk, ein entscheidender Erkenntnisfortschritt zu erwarten ist. Dies lässt sich für alle immunologisch relevanten Prozesse erwarten, vor allem jedoch für die Entstehung, Pathogenese, Feindiagnostik und die rational fundierte medikamentöse Therapie onkologischer Krankheiten.

Revolution in der Medikamentenentwicklung

Diese Entwicklung hat die Medikamentenentwicklung in der Krebsmedizin und vielen anderen Fachgebieten der Medizin revolutioniert. Heute kann man die intrazellulären Stoffwechselwege von menschlichen Tumoren molekular analysieren und die auftretenden Mutationen nachweisen. Anschließend werden neu entwickelte Medikamente eingesetzt, die im Idealfall spezifisch auf die mutierten Proteine wirken. Die Untersuchung menschlichen Tumorgewebes hat damit zur ‚personalisierten Medizin‘ geführt. Die Therapie ist auf die konkreten molekularen Defekte bestimmter ‚Tumorgene‘ des einzelnen Patienten ausgerichtet. Nur dadurch ist eine wirklich wirksame Therapie möglich geworden. [. . .]

Da nahezu alle manifesten Krankheiten durch die Wechselwirkung der genetisch bestimmten Konstitution mit den Umweltbedingungen, der Lebensweise und der Einwirkung von schädlichen Noxen entstehen, wird sich die Medizin nicht mehr auf ‚den Fall‘, also die Einordnung des Menschen in ein Kollektiv mit derselben Diagnose richten, sondern auf die individuelle Spezifik der ‚informatischen Biographie‘ des Individuums.

Gefahr der Reduktion des Menschen auf seine Biologie

Es sind allerdings auch ernst zu nehmende Bedenken formuliert worden, dass eine derart vollständige molekulare Beschreibung den Menschen auf seine biologische Verfassung reduzieren und damit zahlreiche ursächlich wirkende soziale und ethnisch-kulturelle Faktoren beim Patienten ausblenden könnte.“2

Parallel zu dieser Entwicklung hat aber auch die Wissenschaft von den Nebenwirkungen der pathogenetisch fokussierten Therapie zugenommen.3 Daher wird von naturwissenschaftlicher Seite argumentiert, dass ein Arzneimittel, das keinerlei Nebenwirkungen hat, auch nicht wirksam sein kann. Und alles Bestreben geht dahin, Nebenwirkungen bestmöglich zu minimieren bzw. durch den Einsatz anderer Arzneimittel zu kompensieren.

Schrittweise Etablierung des salutogenetischen Ansatzes

Diesem pathogenisch orientierten Ansatz steht der gesundheitswissenschaftlich-salutogenetische gegenüber. Dieser hat seine Entwicklung und Kulmination noch vor sich. Erst seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert er sich langsam in der akademischen Welt. Es ist jedoch zu hoffen, dass dieser Ansatz in nicht allzu ferner Zeit die Mitte der Gesellschaft erreichen wird.

Im Folgenden sei die schrittweise Etablierung der Salutogenese in der akademischen Welt kurz nachgezeichnet:

  • Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung

1986 begann sich endlich auch die Weltgesundheitsorganisation/WHO dieses Themas anzunehmen. So wurde zum Abschluss der Weltgesundheitskonferenz in Ottawa/Kanada die sogenannte Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung4 verabschiedet, in der Prävention zum Kernmerkmal von Gesundheitsförderung ernannt wurde auf der Basis notwendiger, noch zu leistender ‚transformativer‘ Forschung und Wissenschaft.

  • Praktische Umsetzung der Förderung individueller Gesundheit im Fokus

Auf der 2. Weltgesundheitskonferenz 1988 in Adelaide/Australien lag dann der Fokus auf der möglichen praktischen Umsetzung auf den Handlungsfeldern der Politik. In den Bereichen Gesundheitsaufklärung, Erziehung, Bildung, Präventivmedizin sollte auf Grundlage des Leitbildes der Charta, eine Umorientierung weg von der Verhütung von Krankheit hin zur Förderung von Gesundheit vollzogen werden. Die Gesundheitsdienste sollten orientiert werden an den individuellen Bedürfnissen und der ganzheitlichen Wahrnehmung der Persönlichkeit.

  • Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky

Dabei wurde auch auf das Salutogenese-Konzept von Aaron Antonovsky (1923–1994) Bezug genommen. Antonovsky war einer der Pioniere und Mitbegründer der modernen Gesundheitsforschung. Als amerikanischer Medizinsoziologe untersuchte er in Israel den Gesundheitszustand älterer Frauen und entwickelte im Kontext dieser Forschungsarbeit sein Salutogenese-Konzept.5 Unter seinen Klientinnen waren auch Überlebende des Holocaust, von denen einige bei bester Gesundheit waren, anstatt unter körperlichen posttraumatischen Belastungsstörungen und Folgeschäden zu leiden.

Bei der Auswertung seiner Fragebögen stellte er fest, woher deren Resilienz und Immunkompetenz kam: Sie waren in der Lage, ihre Lebenserfahrungen sinnstiftend zu verarbeiten, hatten Freude am Lernen und Verstehen von Zusammenhängen und an der Handhabung ihrer Tätigkeiten. So kam er dem großen Einfluss der Gefühlswelt auf die Gesundheit auf die Spur.

Antonovsky fasste seine Erkenntnisse im Begriff des Kohärenzgefühls (sense of coherence) zusammen. Wer über Kohärenzgefühl verfügt, wird ein Ereignis

  • nicht nur ‚verstehen‘ (Verstehbarkeit im Denken) ,
  • sondern auch als sinnvoll erleben (Sinnhaftigkeit im Fühlen)
  • und damit umgehen können (Handhabbarkeit im Handeln) .

Und alle drei Stadien der Bewältigung werden von dem salutogenetisch wertvollen Gefühl der Freude über die Erkenntnis von schicksalshaft stimmigen Zusammenhängen begleitet. Sie ist das eigentlich gesundende Element. Denn das rein intellektuelle Analysieren von Erfahrungen oder ein routinierter Umgang damit, ohne dass man gefühlsmäßig dankbar oder freudig Anteil daran nehmen kann, wirkt eher krankmachend als gesundend.

Mit diesem Forschungsergebnis nahm Antonovsky Erkenntnisse der psychoneuroimmunologischen Forschung voraus, die zu denselben Ergebnissen kam in dem Sinne, dass positive Gefühle das Immunsystem stärken und gleichgültige so wie negative das Gegenteil bewirken.6

  • Einrichtung von Lehrstühlen für Gesundheitswissenschaften

In Deutschland begann infolge der WHO-Gesundheitskonferenzen von 1986/88 in den 90er Jahren die Einrichtung von Lehrstühlen für Gesundheitswissenschaften, zuerst an der Universität Bielefeld mit der Fakultät für Gesundheitswissenschaften (School of Public Health).

Inzwischen gehören zwar gesundheitswissenschaftliche Ansätze einschließlich der Resilienz- und Salutogeneseforschung schon fast zum akademischen Alltag.

Gründe für zögerliche Umsetzung in der medizinischen Praxis

Deren Umsetzung in der alltäglichen medizinischen Praxis und in der Gestaltung des öffentlichen Gesundheitswesens steht jedoch noch aus. Denn der in der Ottawa-Charta beschlossene Paradigmenwechsel der Umorientierung von der Verhütung von Krankheit zur Förderung von Gesundheit ist zwar proklamiert – ihn lebenspraktisch zu machen, ist und bleibt aber die noch bestehende große soziale, politische und nicht zuletzt wirtschaftliche Herausforderung. Denn:

Wie kann man an der Gesundheit verdienen?

Wer macht dafür die nötige Lobbyarbeit?

Und Was braucht es alles zur auch gedanklich-konzeptionellen Neuausrichtung und Umstrukturierung der Ausbildung für die Gesundheitsberufe, insbesondere der Ärzteschaft?

Wie weit man davon noch entfernt ist, hat das weltweit durchgreifende Corona-Pandemie-Management gezeigt, das ausschließlich pathogenetisch orientiert war. Salutogenetisch orientierte Auffassungen bezüglich Erkrankungsrisiken, Prävention und Therapie wurden auch in der medialen Berichterstattung konsequent ausgeblendet oder sogar lächerlich gemacht und bekämpft.

Dabei konnten nicht zuletzt auch die anthroposophischen Krankenhäuser auf ihren Intensivstationen dank ihres integrativmedizinischen Vorgehens auch bei Schwerkranken erstaunlich gute Behandlungsergebnisse aufzeigen.7

Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20258

  1. Siehe z. B. Steurer-Stuttgart (1919), Fuchs-Wolfring (1912), Dennig (1919).
  2. Petrides und Reich (2022), IX f.
  3. Vgl. Ammon (2001); Stolze (2014).
  4. Siehe die deutsche Fassung der Ottawa Charta, in: Jazbinsek (2000), Anhang.
  5. Antonovsky (1997).
  6. Vgl. Straub (2005; 2022), Schubert (2015) und Opp (2008).
  7. Vgl. COVID-19: www.anthromedics.org/PRA-0939-DE; [6.1.2025].
  8. In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.