Salutogenetische Waldorfpädagogik

Inwiefern kann Waldorfpädagogik salutogenetisch genannt werden?

Was sind die signifikanten Ergebnisse der genannten Studie über Waldorfabsolventen?

Welche Gründe sprechen demnach für eine Waldorferziehung?

Studie über ehemalige Waldorfschüler

Nach dem zweiten Weltkrieg, 1945, hatten wir in Deutschland 6 Waldorfschulen. 2006 waren es bereits 203, 2017 238, 2022/23 241. Das ist eine bemerkenswerte Wachstumskurve einer Bildungseinrichtung, die Gesundheit verspricht und auch aktiv dazu beiträgt.

Anfang 2007 wurde in Deutschland eine Studie1 veröffentlicht, die mit drei Altersgruppen von ca. 1000 ehemaligen Waldorfschülern durchgeführt worden war und zwar mit drei Altersgruppen: mit Absolventen zwischen 30 und 40, zwischen 53 und 62 und zwischen 65 und 70 Jahren. Sie enthielt ausführliche Interviews über ihr Leben und ihren Gesundheitszustand. Die Auswertung ergab, dass Waldorfschüler im Vergleich mit dem statistisch erfassten Gesundheitsdurchschnitt dieser drei Altersgruppen bei typischen Erkrankungen wie Arteriosklerose, Bluthochdruck und Rheuma deutlich besser abschnitten. Das ist ein aufregendes Ergebnis.

Gesundheit für das ganze Leben veranlagen

Für Rudolf Steiner war die Schule ein Ort, an dem all die Qualitäten erworben werden sollten, die von Aaron Antonovsky2 und Abraham Maslov3 Jahre später als gesundheitsfördernd erkannt wurden (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ). Steiner sagte, Lehren sei stilles Heile:4

  • Denn alles sollte so gelehrt werden, dass es als Einladung aufgefasst werden kann, die Welt verstehen zu lernen, die geistige Welt miteingeschlossen (Verstehbarkeit).

  • Jede gute Erziehung sollte auch die Motive hervorbringen, aus denen heraus Schüler lernen wollen. Damit das erreicht werden kann, müssen Lehrer und Schüler zusammenarbeiten (Sinnhaftigkeit).

  • Die Schule muss den Schülern zudem helfen, so viele Fähigkeiten wie möglich zu entwickeln, damit sie im späteren Leben in vielen Bereichen „anpacken“ können (Handlungsfähigkeit).

Dafür engagiert sich Waldorfpädagogik. Das Konzept der Salutogenese wird in den Waldorfschulen praktiziert, obwohl zu Steiners Zeiten noch kein Mensch davon wusste (vgl. Gesundheit: Salutogenese und Pädagogik). Von Anfang an ging es nicht nur darum, Wissen zu vermitteln, sondern jungen Leuten zu helfen, Gesundheit für das ganze Leben zu veranlagen. Das ist vor dem Hintergrund des Entwicklungsgedankens ein Hauptanliegen der Waldorfpädagogik.

Entstehung der Salutogenese-Bewegung

Wie kam es zu diesem neuen Verständnis von Gesundheit?

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die bahnbrechende salutogenetische Forschung Aaron Antonovskys international bekannt. Im Auftrag der Universität Beer Sheva in Israel hatte er den Gesundheitszustand älterer Frauen untersucht, unter denen auch Holocaust-Überlebende waren, die 1939 16 bis 25 Jahre alt gewesen sind. Dabei stieß er auf die überraschende Tatsache, dass ein knappes Drittel von ihnen bei guter Gesundheit war. Dies war ihm unverständlich.

Wie konnten sie grausamste Lebensbedingungen, Demütigungen und körperliche Entbehrungen eines Konzentrationslagers gesund überstehen?

Er hätte erwartet, dass seine Klientinnen alle mehr oder weniger unter posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Dass dies jedoch nicht der Fall war, führte ihn zu der Frage:

Wie entsteht eigentlich Gesundheit?

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen hatten die Entwicklung seines Salutogenese-Konzeptes zur Folge.5 Antonovsky brachte damit auch den Begriff der Salutogenese in die Wissenschaft ein in bewusstem Gegensatz zum etablierten Begriff der Pathogenese, unter der man die Entstehung von Krankheit und Leiden versteht.6

Rettender Kohärenzsinn

Infolge der Antworten auf eine Fülle von Fragen zu Einzelheiten ihrer Lebensführung und Lebensgeschichte und deren Beantwortung konnte Antonovsky schließlich auch das Rätsel des guten Gesundheitszustands dieser Frauen lösen. Denn eines war ihnen gemeinsam: Sie hatten schon als junge Erwachsene die Möglichkeit, alles, was ihnen das Leben und Schicksal entgegenbrachte, irgendwie verarbeiten zu können.

Antonovsky gab dieser Fähigkeit den Namen „sense of coherence“, zu Deutsch „Kohärenzsinn“ bzw. „Kohärenzgefühl“ – ein Gefühl der Übereinstimmung zwischen sich und der Umwelt im Bereich der zentralen seelischen Erfahrungsfelder von Denken und Beobachten, Empfinden und Fühlen sowie auf der Handlungsebene. Dementsprechend gab er diesen drei verschiedenen Aspekten des Kohärenzgefühls die Namen

  • sense of comprehensibility (Gefühl der Verstehbarkeit),
  • sense of meaningfullness (Gefühl der Sinnhaftigkeit)
  • und sense of manageability (Gefühl der Handhabbarkeit).

Denn diese von ihm untersuchten Frauen verfügten offensichtlich über die „gefühlte“ Fähigkeit, selbst die Abgründigkeit des Holocaust in ihr Leben und Schicksal integrieren zu können. Für Antonovsky war damit deutlich, dass diese Fähigkeit zur Integration bzw. dieses Kohärenzgefühl, im Laufe der Erziehung veranlagt und im jungen Erwachsenenalter erprobt, die beste Voraussetzung abgibt für lebenslange Gesundheit und Lebenstüchtigkeit.

Wie Kohärenzgefühl erworben wird

Wie muss Erziehung aussehen, damit sich ein starkes Kohärenzgefühl ausbilden kann?

Diese Frage konnte Antonovsky im Zuge seiner Forschungen nicht beantworten. Sie hat bis heute keine stringente Antwort gefunden. Als Kennerin der Waldorfpädagogik wurde mir bei der Lektüre von Antonovskys grundlegender Publikation jedoch bewusst, dass die Waldorfpädagogik konsequent salutogenetisch ausgerichtet ist, auch wenn es diesen Begriff zur Zeit ihrer Begründung vor hundert Jahren noch nicht gab.

In Rudolf Steiners Vorträgen zur Waldorfpädagogik und -didaktik in den Jahren 1919-24 findet sich jedenfalls ein umfassend beschriebener salutogenetisch orientierter Erziehungsauftrag, den er am 24. August 1922 in Oxford so zusammenfasste:

„Es [alles Unterrichten und Erziehen, M. G.] soll danach streben, aus Menschenkindern physisch gesunde und starke, seelisch freie und geistig klare Menschen zu machen. Physische Gesundheit und Stärke, seelische Freiheit und geistige Klarheit machen aus, was die Menschheit in der zukünftigen Entwicklung auch in sozialer Beziehung am meisten brauchen wird“.7

Entsprechend ist der ganze Waldorflehrplan angelegt: entwicklungsbezogen und altersgerecht.8 Dazu werden Vorschläge für die Stundenplangestaltung gemacht, für die Farben der Klassenzimmer, für die Schulverwaltung, für die Kommunikation mit der Elternschaft und unter den Lehrern selbst.

Vgl. Vortrag „Ursprung und Ziel von Gesundheit“ an der Tagung „Connect“, Dornach, April 2007

  1. Heiner Barz und Dirk Randoll (Hsg.), Absolventen von Waldorfschulen: Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, 2007.
  2. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1987.
  3. Abraham Maslow, Motivation und Persönlichkeit, Hamburg 1981.
  4. Rudolf Steiner, Mantrische Sprüche. Seelenübungen II., GA 268, S. 304; wortwörtlich heißt es dort: „…Und Erziehen ward angesehen gleich dem Heilprozess, der dem Kinde mit dem Reifen die Gesundheit zugleich erbrachte für des Lebens vollendetes Menschsein. “
  5. Salutogenese: von lat. salus (=Gesundheit) und grch. genese (=Herkunft, Entstehen, Werden).
  6. Vgl. grch. páthos (= Leiden[schaft], Sucht)
  7. Rudolf Steiner: Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst (GA 305), Dornach 1991, S. 146.
  8. Vgl. E.A. Karl Stockmeyer: Rudolf Steiners Lehrplan für die Waldorfschulen, 2 Bde., 7. Aufl., Stuttgart 2017.