Der salutogenetische Charakter der Waldorfpädagogik
Woran erkennt man den salutogenetischen Charakter der Waldorfpädagogik?
Worin besteht ihre pädagogische Nachhaltigkeit?
Zeitgemäße Waldorfpädagogik
Drei Aspekte sind es, die die Waldorfpädagogik für das 21. Jahrhundert und die weitere Zukunft besonders geeignet machen:
ihre konsequent salutogenetische Orientierung in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht;
ihr Anliegen, durch den Erziehungsprozess keimhaft zu veranlagen, dass der junge Mensch später nicht nur dem äußeren, materiellen Leben gewachsen ist, sondern sich auch als geistig schöpferisches Wesen erkennen und weiterentwickeln kann;
ihr Bestreben, zur Lösung der großen sozialen Probleme mit den Mitteln einer Pädagogik beizutragen, die nicht auf den Egoismus baut.
- AD. 1. SALUTOGENETISCHE FORSCHUNGSERGEBNISSE
Gesundheit als dynamisches Geschehen begreifen
Es wurde deutlich, dass Gesundheit ein viel komplexeres Geschehen ist, als man bisher dachte (vgl. Gesundheit: Salutogenese – die Lehre von der Gesundheit ). Es muss im Organismus Quellen der Gesundheit und Heilung geben, durch die den täglichen Schädigungen infolge Umweltbelastungen oder ungesunder Lebensführung entgegengewirkt werden kann. So sind die eigentlichen Gegensätze nicht Gesundheit und Krankheit, sondern Kränkung/Erkrankung und Heilung. Gesundheit ist als ein dynamisches Geschehen zu verstehen, welches in jedem Lebensaugenblick die Resultierende dieser beiden gegensätzlichen Potenziale von Kränkung und Heilung im Menschen abbildet.
Eine Folge dieser Einsicht war auch, dass von den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts an bis heute das Fach „Gesundheitswissenschaften“ zunehmend in die medizinischen Fakultäten integriert worden ist, auch wenn neben dem Begriff der Salutogenese noch andere Bezeichnungen wie „Resilienz“ (Widerstandfähigkeit) (vgl. Kindsein heute: Resilienz trotz Risiko), „Coping“ (mit etwas klarkommen) und „Selbstwirksamkeit“ in Forschung und Lehre Eingang gefunden haben. Sie alle deuten auf die zentrale Gesundheitsquelle in jedem Menschen hin: auf sein schöpferisches, autonomes Selbst, sein „Ich“.
- AD 2. ÄSTHETISCHES EMPFINDEN UND FREIHEITSBESTREBEN ALS KEIM
So wie bei Antonovsky im Zentrum seiner Salutogenese-Forschung die Entwicklung des Kohärenzgefühls steht, so bei Rudolf Steiner die Rolle des Gefühls in der Erziehung. „Im ästhetischen Empfinden liegt der Keim, aus dem das Intellektuelle sich entfalten soll“. Und weiter: „Wir haben das Kind für das spätere Leben nur dann richtig vorbereitet, wenn wir in ihm bewirken, dass das Fühlen sich gut loslösen kann von dem Wollen; dann wird es in einer späteren Lebensära als Mann oder Frau auch das losgelöste Fühlen mit dem denkenden Erkennen verbinden können und wird so dem Leben gewachsen sein“. Das heißt, Gedanken, Intellektuelles sollten ebenso wie jedwedes Tun im Unterricht nicht ohne Bezug zum persönlichen Empfinden angeleitet werden, nie ohne den Zusammenhang, worum es geht und warum es auch Sinn macht.
In der so genannten Sonntagshandlung für Kinder (vgl. Jugend heute: Pflege des Ich-Sinnes durch kultische Handlungen), die Steiner im Rahmen des „freien Religionsunterrichts“ für konfessionell oder sonst religiös nicht gebundene Kinder eingeführt hat, finden sich Formulierungen, die geradezu nach einem salutogenetischen Manifest klingen: „Wir lernen, um die Welt zu verstehen. Wir lernen, um in der Welt zu arbeiten. Die Liebe der Menschen zueinander belebt alle Menschenarbeit. Ohne die Liebe wird das Menschensein öde und leer. Christus ist der Lehrer der Menschenliebe.“
Erziehung zur Freiheit
Dass ein solcher Erziehungsauftrag sowohl für die Lehrerbildung als auch für die tägliche Unterrichtspraxis eine große Herausforderung darstellt, liegt auf der Hand. Sich daran zu orientieren und darüber mit Kollegen in der Schule im Gespräch zu sein, erweist sich jedoch auch als Grundpfeiler für die Lehrergesundheit (vgl. Waldorfpädagogik: Was die Lehrergesundheit fördert). Für Steiner war die Ausrichtung pädagogischen Handelns am Ideal der gesunden Entwicklung „eine Kulturforderung“. und die Erarbeitung einer „ethischen Physiologie“ die große Aufgabe der Pädagogik. Auf die Frage, dass die Lehrer doch nicht auch noch Medizin studieren könnten, bemerkte er: „Wenn es notwendig ist, eine gewisse Summe von medizinischer Kenntnis der Pädagogik einzufügen, dann muss es eben geschehen. (…) Es muss geschehen, es muss eine Kulturforderung werden, dass in der Tat Kulturmedizin und Kulturpädagogik einander in die Nähe gebracht werden, sich gegenseitig befruchten. All die Dinge, die gerade heute gefordert werden müssen, sind in vieler Beziehung recht unbequem, aber schließlich ist auch das Leben nach und nach recht unbequem geworden, und es zu heilen wird auch schon eine recht unbequeme Sache werden (…), denn der Mensch kommt nicht zum Freiheitserlebnis, wenn man es ihm eintrichtern will, sondern nur dadurch, dass es in ihm selber erwacht.“
Schule ist für Rudolf Steiner ein Ort, an dem täglich und stündlich nicht nur gelernt wird, sondern auch Entwicklung stattfindet. Deswegen sollten sich die Lernprozesse nicht an den Leistungsvorstellungen von Politik und Wirtschaft orientieren, sondern ausschließlich an der Frage, was in einem bestimmten Lebensalter die körperliche, seelische und geistige Entwicklung am besten fördert. Rudolf Steiner wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass durch alle Schuljahre hindurch, während die Kinder und Jugendlichen lernen, gleichzeitig auch Wachstum und Reifung stattfinden. Die Konstitution, so wie sie sich gebildet hat während der ihrer Entwicklung, nehmen sie mit ins Leben. Dabei sind Vererbung und Milieu zwei entscheidende Einflussfaktoren. Die Art und Weise aber, wie die Individualität des Heranwachsenden zur Eigenaktivität aufgerufen wird, ist der entscheidende dritte Faktor (vgl. Waldorfpädagogik: Bedeutung von Eigenaktivität für Lernprozesse).
- AD. 3. EINE PÄDAGOGIK, DIE NICHT AUF DEN EGOISMUS BAUT
Im ersten Vortrag des Ausbildungskurses für die Waldorflehrer 1919 weist Rudolf Steiner auf einen Tatbestand hin, der bis heute so selbstverständlich unser gesellschaftliches Leben bestimmt, dass er leicht in Vergessenheit gerät: „Vergessen Sie nicht, indem sie sich Ihrer Aufgabe widmen, dass die ganze heutige Kultur, bis in die Sphäre des Geistigen hinein, gestellt ist auf den Egoismus der Menschheit“, um dann fortzufahren: „Wir leben in der Zeit, in der dieser Appell an den menschlichen Egoismus in allen Sphären bekämpft werden muss, wenn die Menschen nicht auf dem absteigenden Wege der Kultur, auf dem sie heute gehen, immer mehr und mehr abwärts gehen sollen.“
Waldorfpädagogik ist als eine Pädagogik gedacht, die konsequent nicht auf den Egoismus baut, sondern auf die drei Kernideale des Altruismus:
- Gesundheit
- Menschenwürde
- Freiheit
Von Gesundheit sprechen wir dann, wenn jedes Organ zum rechten Zeitpunkt und im notwendigen Maß seinen Beitrag zum Wohle des ganzen Organismus leistet. Dabei gelingt die Paradoxie, dass z. B. der Magen umso mehr Magen ist und seine „Identität“ wahrt, je besser und typischer er im Verdauungssystem arbeitet. Entsprechend ist es mit allen anderen Organen: Selbsterhaltung und Regeneration des Organs sind das eine, die zu leistende Tätigkeit im Ganzen des Organismus hingegen das andere.
Das deutsche Wort „Selbstlosigkeit“ macht dies bewusst: Man kann sich selbst erst dann loslassen, von sich selbst absehen, dem Kontext, in dem man darinnen steht, erst dann wirklich dienen, wenn man ein autonomes Selbst geworden ist. Je stärker ein Mensch seine eigene Individualität ausgeprägt hat und erlebt, je besser er sich selbst versteht und ganz bei sich ist, desto leichter fällt es ihm auch, von sich selber abzusehen und sich anderen zuzuwenden. Wer bei sich angekommen ist, ist sozusagen am Ziel angelangt. Neues lernt er jetzt in der Hinwendung zu den Sorgen und Nöten anderer. Wer jedoch noch auf der Suche nach sich selber und damit ich-bezogen ist, beschäftigt sich vorwiegend mit sich selbst und ist weniger empfänglich für das, was andere nötig haben.
Fragen des Pädagogen an das Kind
So wird auch verständlich, warum eine Pädagogik, die nicht auf den Egoismus baut, eine Haltung erfordert, welche den Pädagogen ermöglicht von sich selbst abzusehen und sich ganz dem Kind zuzuwenden mit der innerlichen Frage:
Was brauchst du von mir?
Wie kann ich meine Kompetenzen in den Dienst deiner Entwicklung stellen?
Wie muss ich den Tagesablauf bzw. den Unterricht gestalten, dass er dir den Lehrstoff und Entwicklungsraum bietet für das, was du lernen und entwickeln willst?
Wie kann ich mich selbst instrumentalisieren bzw. wie kann ich lernen, dir das zu geben, was du brauchst, um wirklich du selbst zu sein?
Vgl. „Die salutogenetische Orientierung der Waldorfpädagogik“, in: Medizinisch-Pädagogische Konferenz. Heft 093 2020
- Rudolf Steiner, Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehungskunst, GA 305, S. 69.
- Rudolf Steiner, Ritualtexte für die Feiern des freien christlichen Religionsunterrichts (GA 269), Dornach 1997, S. 42 ff.
- Rudolf Steiner, Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen (GA 309), Dornach 1972, S. 77.
- Ebd., S. 78 f.
- Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik (GA 293), Dornach 1992, S. 20 f.