Was die Lehrergesundheit fördert

Was können einzelne Lehrer für ihre Gesundheit tun?

Was kann ein Lehrerkollegium dazu beitragen, dass man körperlich und seelisch belastbar bleibt oder wieder wird?

Burn-out-Gefährdung in den helfenden Berufen

Dass die helfenden Berufe, zu denen auch die Pädagogen und Sozialarbeitern gehören, vom Burn-out besonders betroffen sind, ist schon lange bekannt. Dennoch hat sich bis jetzt die Lage eher verschlechtert als verbessert. Inzwischen betrifft dies zunehmend die gesamte Arbeitswelt.

So war in der NZZ vom 12. Januar 2020 zu lesen, dass seit 2012 in der Schweiz die Krankmeldungen aus psychischen Gründen um 70 % gestiegen sind, wobei in sechs von zehn Fällen Burn-out oder eine Depression die Ursache war.

Rudolf Steiner hat hilfreiche Anregungen gegeben, die dazu beitragen können, den Schulalltag unbeschadet zu meistern, von denen ich einige im Folgenden nennen möchte:

Lehrertugenden und Wesensglieder

Die vier Lehrertugenden sind

  1. Initiative (Ich-Organisation)

  2. Interesse für alles Weltliche und Menschliche (Astralleib)

  3. Wahrheitsliebe (Ätherleib)

  4. „nicht sauer sein“ (Physischer Leib)

Diese Qualitäten sind zugleich „Pflegetugenden“ für die vier Wesensglieder (vgl. Wesensglieder: Betrachtung der Wesensglieder unter fünf Aspekten).

  • Ad 1. Was die Ich-Organisation stärkt

Die Ich-Organisation wird durch Initiativkraft gestärkt (vgl. Mut: Ich-Organisation und Ich-Wesen als Quelle von Mut). Auch den Schülern geht es schlagartig besser, wenn sie sehen, dass ihre Lehrer etwas mit der Klasse vorhaben und entsprechend energiegeladen das Klassenzimmer betreten. Man kann Initiative aber auch üben, indem man sich z. B. vornimmt, jeden Tag etwas zu tun, wie beispielsweise einen bestimmten Baum in der Nähe anzusehen. Es ist dies keine Zeitfrage, sondern nur eine Initiativ- und Willensfrage.

  • Ad 2. Was die astralische Organisation stärkt

Die astralische Organisation hingegen wird durch Interesse gepflegt (vgl. Mut: Der astralische Leib als Quelle von Mut). Das kann man üben, indem man sich z. B. etwas widmen möchte, mit dem man sich noch nie auseinandergesetzt hat.

  • Ad 3. Was die ätherische Organisation stärkt

Die ätherische Organisation wird durch Wahrhaftigkeit und Wahrheitsliebe kräftiger (vgl. Mut: Der ätherische Leib als Quelle von Mut).

  • Ad 4. Was die physische Organisation stärkt

Die physische Organisation braucht ein gutes Säure-Basen-Gleichgewicht (vgl. Mut: Der physische Leib als Quelle von Mut). Dass man dieses auch vom Seelischen her durch Arbeit an sich selber unterstützen kann, ist eine wichtige Erfahrung. Man kann z.B. üben, erst dreimal ein- und auszuatmen, bevor man auf etwas reagiert. Dann hat man erst die Möglichkeit zu wählen, wie man es tut.

Pflege von leibfreiem Denken, Fühlen und Wollen (Quinta Essentia)

Neben diesen vier Tugenden charakterisiert Steiner im letzten Vortrag seiner „Allgemeinen Menschenkunde“1 noch drei weitere Qualitäten, in denen man unschwer Pflegetugenden für die „Quinta essentia“ erkennen kann(vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Die fünf Ebenen des anthroposophischen Menschenbildes). Denn durch sie wird die Ich-Kompetenz in der Seele angesprochen in ihrem Verhältnis bzw. in der Art ihres Umgangs mit dem eigenen Denken, Fühlen und Wollen.

  • Pflege des fantasievollen Denkens

Für das Denken gilt: Halte deine Fantasie lebendig. Rudolf Steiner nennt dies den kategorischen Imperativ für Lehrer. Denn Fantasielosigkeit führe zur Pedanterie. Und Pedanterie sei das definitiv Schlechteste, was man im Unterricht walten lassen könne. Die Gefahren des Intellektualismus der Gegenwart seien Bequemlichkeit und Fantasielosigkeit. Ich-Präsenz in der Seele oder Geistesgegenwart kann das nicht zulassen. Wer im Leben steht, braucht Fantasie, um seinen Anforderungen gerecht zu werden. Denn das Leben bringt ständig Neues und zeigt sich immer wieder anders, als wir es erwarten.

So braucht es besonders viel Fantasie, um jedem einzelnen Augenblick jeder Schulstunde gerecht werden zu können. Ständig braucht man gute Einfälle, um dieses oder jenes, was die Schüler an den Tag legen, mit Humor, Ernst, einer Geste oder mit bewusstem Schweigen zu beantworten. Diese fantasiebereite Haltung sei Fundament pädagogischer Moral.

  • Pflege des wahrhaftigen Fühlens

Im Hinblick auf das Fühlen braucht es hingegen den Mut zur Wahrheit. Auch hier gilt es, Bequemlichkeit und Mangel an Geistesgegenwart zu überwinden. Ist es doch so viel einfacher, sich dem Gang der Dinge zu überlassen, sich das Leben und vor allem die menschlichen Beziehungen durch Gefälligkeiten und Gewohnheitslügen zu erleichtern bzw. auf Abstand zu halten.

Es braucht Energie und Mut – d. h. Geistesgegenwart im Fühlen –, um sich den Menschen und Dingen ehrlich und wahrhaftig gegenüberzustellen. Wer sein Wahrheitsgefühl betäuben lässt, kann kein Vorbild für Schüler sein. Die Haltung des Lehrers als Mensch, die sich ja täglich im Klassenzimmer auswirkt, wird von den Schülern unmittelbar miterlebt. Fehlt echte Menschlichkeit, erzeugt das bei ihnen eine unbewusste Enttäuschung, die sich dann auch in bestimmten Formen von Respektlosigkeit zeigt.

  • Pflege des verantwortungsbewussten Handelns

Die Geistesgegenwart im Willen, in der Handlungsbereitschaft zeigt sich im Verantwortungsbewusstsein, das die Schüler erleben. Erleben sie in jeder Unterrichtsstunde, wie sich Lehrer in dreifacher Weise verantwortlich fühlen:

  • dem Unterrichtsgegenstand gegenüber, den sie vermitteln dürfen,
  • dem individuellen Schüler gegenüber
  • und gegenüber sich selbst,

so wird die Wärme wahrer Präsenz im Klassenraum erlebbar, die das Unterrichtsklima positiv bestimmt. Und so schließt Rudolf Steiner seinen pädagogischen Lehrgang mit den Worten ab:

„Durchdringe dich mit Phantasiefähigkeit,
habe den Mut zur Wahrheit,
schärfe dein Gefühl für seelische Verantwortlichkeit.“2

Ein guter Kamerad der Naturentwicklung werden

Ein bekanntes Zitat aus Steiners Vorträgen zur Allgemeinen Menschenkunde besagt, die Lehrer müssen „ein guter Kamerad der Naturentwicklung“ werden.3 Die Frage, was damit gemeint sein könnte, hat auch mich immer wieder beschäftigt.

Im Laufe der Zeit erlebte ich wie als Antwort, dass das Studium der natürlichen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, die Beobachtung des fragilen Ineinandergreifens körperlicher und seelischer Prozesse, etwas sehr Berührendes sein kann. Die Beschäftigung mit den Jahresmeilensteinen der Entwicklung kann dazu beitragen, die geforderte Kameradschaft mit der Entwicklung zu festigen und so die Empathie für die Heranwachsenden zu vertiefen. Je mehr Verständnis man für ein bestimmtes Lebensalter mit all seinen Erscheinungsformen aufbringt, umso leichter wird es einem fallen, sich bei Frechheiten oder Unverschämtheiten nicht persönlich angegriffen zu fühlen, sondern vielmehr zu überlegen, was man tun kann, damit auch dieses Kind spürt, wie sehr man ihm auf seinem Weg helfen möchte (vgl. Waldorfpädagogik: Gesundheitsfördernde Unterrichtsvorbereitung).

Sobald ich als Ärztin eine Diagnose habe, kommen auch die therapeutischen Ideen. Ebenso geht es Lehrern. Wer versteht, woher bestimmte Verhaltensweisen rühren, hat es leichter, im Unterricht darauf zu reagieren. Und wenn die eigenen Ideen nicht ausreichen, hat man das Kollegium, mit dem man solche Fragen besprechen kann.

Das Kollegium als Kraftquelle

Die von Rudolf Steiner eingerichtete pädagogische Konferenz sollte deshalb Fragestellungen und eine entsprechende pädagogische Lektüre zum Hauptinhalt haben, die helfen würden, die verschiedenen Altersstufen und ihren Entwicklungsbedarf besser zu verstehen. Das wirkt sich wie eine permanente Weiterbildung aus und ist zugleich die effektivste Hilfeleistung seitens des Kollegiums. In solcher Art gegriffen ist die pädagogische Konferenz die wichtigste Kraftquelle für den Lehrerberuf. Für das Gelingen ist entscheidend, dass im Kollegium eine gute Stimmung voller Hilfsbereitschaft herrscht. Wenn diese fehlt und die Lehrer Einzelkämpfer bleiben, dann fehlt eine entscheidende Quelle der Inspiration und Freude am Beruf.

Instrumente zur Verbesserung der Zusammenarbeit

Ein konstruktives Klima kann jedoch durch entsprechende Instrumente gefördert werden.

  • 1. Klausur

Initial eignet sich dazu eine Klausur von mindestens vier Tagen und drei Nächten, in denen das Kollegium sich die Zeit nimmt, voneinander zu erfahren:

  • wo jeder gerade biografisch steht
  • welche pädagogischen Herausforderungen zu meistern sind,
  • welche Fragen
  • und welche Wünsche vorhanden sind.

Man kann die so gesammelten Themen und Fragestellungen unter Hauptüberschriften zusammenfassen und sie in drei bis vier kleinen Gruppen bearbeiten. Die Lösungsansätze können dann im gesamten Kollegium beraten und konkretisiert werden, um zu konkreten Änderungs- und Arbeitsvorschlägen zu führen. Wichtig ist dabei, dass man unter einem Dach wohnt, die Mahlzeiten zusammen einnimmt und sich besser kennenlernt.

  • 2. Begleitende Textarbeit

Als begleitende Textarbeit eignet sich das Kapitel: „Die Bedingungen zur Geheimschulung“ aus Rudolf Steiners Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“.4 Rudolf Steiner stellt dort sieben Bedingungen vor, die dem Erwachsenen helfen können, das eigene Leben als Ort persönlicher und beruflicher Weiterentwicklung zu sehen (vgl. Waldorfpädagogik: Die sieben Bedingungen für den Weg der Selbstentwicklung). Jedes Lernziel ist ja an bestimmte Lernbedingungen gebunden. Kraft, Gesundheit und Lebensfreude können sich nur entwickeln, wenn die richtigen Bedingungen dafür geschaffen werden.

Liest man diese Bedingungen gemeinsam im Kollegium – es genügen jeweils schon wenige Sätze – und spricht anschließend darüber, entsteht schon dadurch eine feine Atmosphäre des Vertrauens. Denn die Lektüre fordert dazu heraus, ehrlich Stellung zu nehmen und zu sagen, was man denkt oder wie man die Sache empfindet. Wenn es in einem Kollegium nicht ehrlich zugeht oder man Angst voreinander hat, weil man sich keine Blöße geben will, wenn man Zweifel an sich selber hat, die man sich nicht recht eingestehen und über die man nicht sprechen kann, dann wirkt sich dies negativ auf das soziale Klima aus.

Vgl. Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, edition waldorf, Stuttgart, 2. überarbeitete Auflage 2020

  1. Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde, Methodisch-Didaktisches Seminar, Studienausgabe, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2019, S. 640.
  2. Ebenda S. 641.
  3. Rudolf Steiner, In: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Elfter Vortrag. Stuttgart, 2. September 1919, GA 293. Rudolf Steiner Verlag, Dornach, S. 169.
  4. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1993.

Waldorfpädagogik