Aufgaben von Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, Pfleger und Therapeut an Schulen

Was sind die Aufgabenfelder des medizinisch-therapeutischen Dienstes an Schulen heute?

Was verstand Rudolf Steiner unter „schulhygienischen Fragen“?

Was fordert der Aufruf zu einer humanen Schule?

Wesensglieder-Disharmonien beobachten lernen

Am 6. Februar 1923 widmete Rudolf Steiner eine ganze Lehrerkonferenz im Beisein des Schularztes Eugen Kolisko (1893–1939) „schulhygienischen Fragen“.1 Es gab nach dem Ersten Weltkrieg auch an der Waldorfschule durchaus noch mangel- und unterernährte Kinder, für die Kolisko schon ein Nahrungsergänzungsmittel hergestellt hatte. Der Hauptschwerpunkt lag aber diesmal nicht auf Ratschlägen zur gesunden Entwicklung einzelner Kinder.

Vielmehr ging es darum, Ungleichgewichte, Wesensglieder-Disharmonien beobachten zu lernen und diese mit den Methoden des Waldorf-Lehrplans auszugleichen. Steiner entwickelte hier die Grundzüge einer spezifischen Konstitutionslehre für PädagogInnen, die zusammen mit den Ausführungen im „Heilpädagogischen Kurs“ vom Juni 19242 ganz neue Aspekte in die Entwicklungsdiagnostik hereingebracht haben. Das Besondere aber war, dass die LehrerInnen darauf aufmerksam gemacht werden sollten, wie viel therapeutischen Einfluss sie bereits durch die Methoden der Waldorfpädagogik haben und dass Heilen mit pädagogischen Mitteln möglich ist. Er nannte dieses Heilen mit pädagogischen Mitteln später gegenüber Ärzten auch „leises Heilen“.3

Anlässlich des 50. Todestages von Eugen Kolisko wurde dieser schulärztlichen Konferenz 1989 eine ganze Tagung gewidmet, die in dem Buch „Das Schulkind – die gemeinsame Aufgabe von Arzt und Lehrer. Konstitutionsfragen, Unterrichtsschwierigkeiten, therapeutische Lehrplanprinzipien“ dokumentiert ist, das auch heute noch eine Fundgrube für therapeutische Ideen im täglichen Unterrichtsgeschehen ist.4

Internationaler Schulärztekreis

Es gibt einen internationalen Schulärztekreis, der seit 1978 regelmäßige Weiterbildungstagungen am Goetheanum durchführt, in die auch Therapeuten, interessierte Lehrer, Heilpädagogen, Sozialarbeiter und Psychologen einbezogen werden. Aus dieser Arbeit ging ein Folgeband „Gesundheit und Schule“5 hervor, mit Beiträgen vieler FachkollegInnen rund um den schulärztlichen Alltag an einer Waldorfschule. Auf internationaler Ebene gibt es bis heute immer wieder auf Initiative einzelner Länder weltweit ausgerichtete Kolisko-Tagungen für Pädagogen, Schulärzte und alle Menschen – einschließlich der Eltern und SchülerInnen der Oberstufe –, die sich für Entwicklungsfragen in Kindheit und Jugend interessieren.

Im Jahr 2006 fanden neun solcher internationalen Kongresse in Indien, Taiwan, Südafrika, auf den Philippinen, in der Ukraine, in Australien, Mexiko, Schweden und Frankreich statt. Dafür wurde ein inhaltsreicher Tagungsband mit dem Titel „Gesundheit durch Erziehung“6 in der jeweiligen Landessprache veröffentlicht, der teilweise auch gegenwärtig noch über den Buchhandel oder die Medizinische Sektion am Goetheanum erhältlich ist.

Schularzt als Facharzt für Präventivmedizin

Schon allein diese Fülle der Themen, um die es im Alltag von Schulärzten geht, wäre es wert, eine neue medizinische Disziplin zu schaffen – z.B. den Facharzt für Präventivmedizin. Denn der schulärztliche Auftrag umfasst nicht nur

  • die Entwicklungsdiagnostik ,

  • sondern auch die intensive Zusammenarbeit mit den Pädagogen, Eltern und allen, die im Rahmen der betreffenden Schule für die SchülerInnen tätig sind.

Die Schulärzte können weder Schulpsychologen noch Sozialarbeiter noch die Schulkrankenschwester ersetzen und sie sind immer froh, wenn Delegationen und Überweisungen möglich sind. Dennoch kommt es immer wieder vor, schon allein aus finanziellen Gründen, dass sie für alles zuständig sind oder aber, dass ein Schulpsychologe oder eine Schulkrankenschwester ihre Funktion, soweit dies möglich ist, mit übernehmen muss.

Aufruf zur Verwirklichung der humanen Schule

Bereits 1984 hatte Peter Pauli, Ordinarius der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt, einen Aufruf zur Verwirklichung der humanen Schule in dem deutschen Fachblatt „Der Kinderarzt 7/1984“ publiziert. Aus waldorfpädagogischer Sicht sind seine zehn Forderungen, in die er den von ihm erkannten Handlungsbedarf zusammengefasst hatte, immer noch brandaktuell. Die sechste Forderung verlangt sogar, „in den Regelschulen muss das eingeführt werden, was zum Beispiel in den freien Schulen nach Maria Montessori, Peter Petersen, Rudolf Steiner und Freinet seit Jahrzehnten mit Erfolg praktiziert wird: Lernberichte anstatt den nicht objektiven und völlig unzulänglichen Ziffernzensuren, Freiarbeit und Epochenunterricht; mehr pädagogische Freiheit für die einzelnen Lehrer*innen sowie mehr Entscheidungsbefugnisse für die einzelne Schule und das Kollegium usw.“ . Die zehnte Forderung appelliert dann vor allem an die akademische Welt:

„Wir fordern insbesondere alle Pädagogen, Psychologen, Soziologen und Mediziner der deutschen Universitäten auf, sich mit dem zu befassen, was täglich in unseren Schulen geschieht. Wenn, wie Professor Bärsch festgestellt hat, Millionen von Kindern an der Schule leiden, so sind gerade diese Wissenschaftler aufgerufen, ihre Studierstube und Katheder zu verlassen und aus Verantwortungsbewusstsein für die heranwachsende Generation dazu beizutragen, dass Schüler und Eltern nicht weiterhin der Rotation unausgegorener Konzepte ohnmächtig-wehrlos ausgesetzt bleiben. Sie müssen ihr Wissen und Können einbringen und Partei ergreifen für die Kinder an unseren Schulen, wenn weiteres Unheil vermieden werden soll.“

Prof. Felix Walter Bärsch, damals der Präsident des „Deutschen Kinderschutzbundes“, hatte sich für die Forderungen Paulis anlässlich des Kinderschutztages 1983 stark gemacht. Es ist dies ein weiteres Beispiel, dass im Grunde alles, was für eine Erneuerung des gesamten Schulwesens notwendig ist, bereits zur Verfügung steht.

Durch ein Machtwort von oben wird sich dieses Schulwesen jedoch auch weiterhin leider nicht verändern. Es verändert sich aber kontinuierlich in kleinen Schritten durch die Einsicht und das geduldige Engagement derjenigen, die ihre Verantwortung gegenüber der Generation von morgen fühlen. Es ist die Aufgabe der an der Schule tätigen Ärzte und Therapeuten, das Bewusstsein für die notwendige Humanisierung des Schulwesens wachzuhalten und das ihre für die Weiterbildung der Lehrer beizutragen, die im Rahmen ihrer Ausbildung davon noch zu wenig gehört haben.

Steiners Idee der Institution eines Schularztes

In einer Lehrerkonferenz vom 16. Januar 1921 hat Steiner seine damals noch revolutionäre Idee der Institution eines Schularztes wie folgt formuliert: „Diese Institution des Schularztes müsste man einrichten und so gestalten, dass es akzeptiert werden könnte von der öffentlichen Meinung. Man sollte eine besondere Institution des Schularztes schaffen. [...] Der Schularzt, der meiner Idee nach da sein müsste, der müsste sämtliche Schulkinder kennen und im Auge behalten, der müsste im Grunde genommen nicht einen speziellen Unterricht haben, sondern sich mit den Kindern sämtlicher Klassen beschäftigen, wie es sich ergibt. Den Gesundheitszustand sämtlicher Kinder müsste er wissen. Da lässt sich viel sagen. Ich habe öfter betont, die Leute sagen, es gibt so viele Krankheiten und nur eine Gesundheit. Es gibt aber ebenso viele Gesundheiten, als es Krankheiten gibt. Diese Institution des Schularztes, der alle Kinder kennt und im Auge behält, das würde eine vollamtliche Beschäftigung sein; der müsste ganz in unsere Dienste treten. Ich glaube nicht, dass wir es machen können. Wir sind finanziell nicht so weit, dass wir es verantworten können. Es müsste streng durchgeführt werden. Nur dadurch würde es akzeptiert werden. Er muss jemand sein, der ganz in der Schule drinnensteht.“7

Wenig später war es dann aber doch so weit, dass in dem Wiener Arzt Dr. Eugen Kolisko eine Persönlichkeit gefunden wurde, die ihre finanziellen Ansprüche mit den Möglichkeiten der Schule in Einklang bringen konnte und ab da ihre gesamte Kompetenz für die erste Waldorfschule einsetzte. Kolisko führte dann auch seine Privatpraxis in der unterrichtsfreien Zeit im Arztzimmer der Schule.

Heute gibt es durchaus Kollegen, die sich in ähnlicher Weise voll beruflich für den Schularztberuf engagieren. Die Mehrheit macht dies jedoch in Teilzeit bis hin zu nur wenigen gebündelten Visiten pro Jahr, was jedoch immer noch besser ist als gar nichts. Weiteres zu den Tätigkeitsfeldern und den Berufsbildern findet sich in der oben schon zitierten Literatur.

Das einzelne Kind in den Fokus nehmen

Welche Form diese Tätigkeit auch im Einzelfall annimmt – die Kernaufgabe hat Rudolf Steiner klar formuliert: „Den Gesundheitszustand sämtlicher Kinder müsste er wissen“ – welche Herausforderung! Deshalb ist es auch heute noch ein Herzensanliegen der Waldorfpädagogik, im Rahmen der Lehrerkonferenzen regelmäßig einzelne Kinder in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken und zu beraten, was man zu deren Förderung noch tun kann. Da können sich dann medizinische, psychologische, soziale, pädagogische Aspekte gegenseitig beleuchten, nicht selten auch ergänzt durch äußerst wertvolle Beobachtungen von Mitarbeiter aus dem Schulsekretariat oder seitens der Hausmeisterei.

Es hat sich auch bewährt, Eltern in solche „Kinderkonferenzen“ einzuladen, in bestimmten Fällen auch die Kinder und Jugendlichen selbst. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das äußerst hilfreiche Buch von <7>Ingrid Ruhrmann und Bettina Henke hinweisen mit dem Titel „Die Kinderkonferenz“.8 Dass solche Kinderkonferenzen ein hohes Maß an Taktgefühl und Kompetenz voraussetzen, ist klar. Deshalb braucht es auch hier eine entsprechende Schulung und Vorbereitung.

Aus schulärztlicher Sicht ist die heute von Wirtschaft und Politik propagierte frühe Digitalisierung von Kindergärten und Schulen der schwerste Angriff auf eine gesunde Entwicklung – insbesondere des selbstständigen Denkvermögens –, mit dem die Kinder und Jugendlichen konfrontiert werden. Deswegen setzt sich die „Europäische Allianz von Initiativen angewandter Anthroposophie/ELIANT“ gemeinsam mit den Fachleuten aus dem „Bündnis für humane Bildung“ als weltweite Bürgerbewegung für eine Humanisierung von Schule und Erziehung ein, auch wenn sich ihre Petition an die Bildungsverantwortlichen zunächst auf die EU und ihre Mitgliedsstaaten konzentriert.9

Vgl. Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, edition waldorf, Stuttgart, 2. überarbeitete Auflage 2020

  1. Vgl. Rudolf Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924, Konferenz vom Dienstag, 6. Februar 1923, 16 Uhr, in: Bd. 2: Konferenzen 1921–1923, GA 300 b, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2019, S. 257 ff.
  2. Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, GA 317, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995.
  3. Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, Osterkurs, Fünfter Vortrag, Dornach, 25. April 1924, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2003, S. 219.
  4. Michaela Glöckler (Hg), Das Schulkind – die gemeinsame Aufgabe von Arzt und Lehrer. Konstitutionsfragen, Unterrichtsschwierigkeiten, therapeutische Lehrplanprinzipien, Verlag am Goetheanum, Dornach 1992.
  5. Michaela Glöckler (Hg), Schulärztliche Tätigkeit an Waldorfschulen und Rudolf Steiner Schulen. Berufsbild, Perspektiven, praktische Erfahrungen. Erziehung als präventivmedizinische Aufgabenstellung, Verlag am Goetheanum, Dornach 1998.
  6. Michaela Glöckler, Stefan Langhammer, Christof Wiechert (Hg), Gesundheit durch Erziehung, Medizinische und Pädagogische Sektion am Goetheanum, Dornach 2006, Persephone Kongressband.
  7. Rudolf Steiner, Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule 1919 bis 1924, Konferenz vom Sonntag, 16. Januar 1921, 9.45 Uhr. In: Bd. 1: Konferenzen 1919–1921. GA 300a, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1995, S. 263.
  8. Ingrid Ruhrmann und Bettina Henke, Die Kinderkonferenz: Übungen und Methoden zur Entwicklungsdiagnostik, Stuttgart 2017.
  9. Siehe https://eliant.eu/aktuelles/stellungnahmen-und-news-zur-corona-pandemie/