Lehrertugenden und Professionalität

Inwiefern haben die Lehrertugenden mit Professionalität zu tun?

Sind sie persönliche Angelegenheit des Lehrers?

Was brauchen Schüler vom Lehrer als Mensch?

Bedeutsame Lehrertugenden

Rudolf Steiner war auch in Bezug auf die Umsetzbarkeit von Idealen (hier: der Waldorfpädagogik) Realist und sagte deshalb, der Lehrer solle seinen „maroden Alltagsmenschen“ mit dem Mantel vor der Klassenzimmertüre am Kleiderhaken ablegen, um wenigstens den Unterricht und den Umgang mit den Schülern als unvoreingenommener, heiterer Mensch zu gestalten. Eine heitere, frische Seelenstimmung sei die professionelle Grundausstattung eines Waldorflehrers. Die Lehrertugenden sollen helfen, die Wesensglieder unter die Kontrolle des Ich zu bringen. Es sei Sache des Lehrerkollegiums, einander diese professionellen Lehrertugenden unablässig nahezubringen (vgl. Zusammenarbeit: Orientierung am gemeinsamen Ziel).

Diese sind deshalb so bedeutsam, weil sie genau das betreffen, was auch die Schüler lernen sollen: sich körperlich, seelisch und geistig zu beherrschen (vgl. Waldorfpädagogik: Ideal und Prinzipien der Waldorfpädagogik). Optimalerweise gehen Kinder zur Schule, damit

  • ihr Körper Instrument des Seelischen
  • und die Seele Wohnort des Geistes werden kann.

Einen anderen Sinn kann Schule aus menschenkundlich-geisteswissenschaftlicher Sicht nicht haben.

Wenn ein Lehrer von diesen Zusammenhängen nichts versteht und ständig gegen diese eigentliche Intention von Schule verstößt, ist er kein Profi und fehl am Platz in einer Waldorfschule. Obwohl jeder nur selbst an diesen Tugenden arbeiten kann (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Selbsterkenntnis und Selbsterziehung) und keiner sie vom anderen einfordern darf, sollte die Konferenz ein Ort sein, an dem auch darüber gesprochen wird und sie gemeinsam gepflegt werden.

Sich als Mensch zeigen

Rudolf Steiner forderte vom Waldorflehrer zudem, dass er als ein Mensch vor den Schülern steht, von dem sie lernen können, wie man das Leben begreifen und auch die geschichtlichen Ereignisse verarbeiten kann. Denn davon handelt letztlich aller Unterricht: wie man mit allem, was einem durch Wissen und Leben zukommt, zurechtkommt.

Die Waldorfschule ist keine Weltanschauungsschule. Aber wer als Lehrer keine Weltanschauung hat, kann kein Lehrer sein. Man muss in der Lage sein, den Unterrichtsstoff sinnstiftend zu verarbeiten und mit einer gewissen Lebensfreude und Sachkenntnis zu handhaben. Dazu ist eine spirituelle Orientierung nötig, die von Abraham Maslow und in unseren Kreisen „Weltanschauung“ genannt wird (vgl. Gesundheit: Gotteserfahrung als Ressource). Diese Orientierung umfasst alles, was im Unterricht vorgebracht wird, als ehrliche Suchgeste und Annäherung, als ehrliches Zwiegespräch mit der geistigen Welt.

In der Waldorfpädagogik wird das Denken als geistige Tätigkeit begriffen (vgl. Denken: Die Natur des Denkens in Erkenntnis und Erfahrung). Es geht also nicht um eine Weltanschauung im Sinne eines bestimmten Bekenntnisses, sondern um Weltanschauung als ein Sich-Stützen auf das Denken:

  • auf das Selbst-Verstehen,
  • auf das eigenständige sinnstiftende Verarbeiten,
  • auf das selbstverantwortliche Handhaben.

Wenn ein Schüler den Lehrer fragt – Warum haben wir Religionsunterricht? – sollte man sich nicht auf den Lehrplan und auf Autoritäten berufen, sondern selbst bekennen, wie man zu der Sache steht. Sonst hat man die falsche Weltanschauung: eine, die den Schüler nicht interessiert.

Selbstschulung als Voraussetzung

Rudolf Steiner und Ita Wegmann zitieren im Grundlagenwerk für Mediziner, „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“1, im 1. Kapitel zwei Bücher: „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“2 und die „Geheimwissenschaft im Umriss“3. Diese beiden Werke, die von Entwicklung handeln, sind ein Muss für jeden Arzt und jeden Lehrer. Denn Selbstschulung ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche Fremdschulung:

  • Wer nicht für sich selbst zum Lehrer wird, kann auch Schüler nicht vernünftig lehren.
  • Wer sich selbst nicht führt, kann auch andere nicht führen.

Diese Kongruenz zu entwickeln gehört zur pädagogischen Professionalität. Dann führen das Studium der Anthroposophie und die bewusste Arbeit an der eigenen inneren Entwicklung zu tiefer Lebenseinsicht. Man erkennt die Selbstschulung als Notwendigkeit, weil man nur so auch die Entwicklung eines Schülers oder eines Kollegen richtig einschätzen kann. Wer sich selbst nicht weiterentwickelt hat, kann den Entwicklungsbedarf eines anderen nicht wahrnehmen. Dann kann man nur den eigenen Bildungsgrad, den eigenen Entwicklungsstand projizieren und mehr oder weniger bewusst mit dem umgehen, was ihm ähnlich ist.

So gesehen wäre es sinnvoll, eines oder beide der genannten Bücher drei Jahre lang im Rahmen der Lehrerkonferenz gemeinsam mit den Kollegen durchzuarbeiten. Denn in dem Moment, in dem man sich als Lehrer bewusst zu entwickeln beginnt, wird man merken, dass alleine schon

  • das Denken dieser Entwicklungsmöglichkeiten
  • sowie das Empfinden, dass das alles möglich ist, was man wirklich will,

eine Art Hellsichtigkeit für den Entwicklungsbedarf der Schüler und der Menschen im Umkreis hervorrufen. Man unterrichtet dann respektvoller, demütiger, bewusster, sensibler – mit einem intimeren Verständnis für die jeweiligen Lebenssituationen und Verhaltensweisen der Schüler.

Vortrag „Die salutogenetische Wirkung von Kinderhandlung, Jugendfeier und Opferfeier“, für Religionslehrer 2012

  1. Rudolf Steiner; Ita Wegman, Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?, GA 10.
  3. Rudolf Steiner, Geheimwissenschaft im Umriss, GA 13.

Waldorfpädagogik