Gesundheitsfördernde Unterrichtsvorbereitung
Wie kann man die Unterrichtsvorbereitung selbst zu einer Kraftquelle machen?
Wie wirkt das freie Unterrichten auf die Schüler und wie das aus Büchern und anderen Quellen Vorgelesene?
Welchem Ziel dient laut Rudolf Steiner letztlich alles Unterrichten?
Menschenkenntnis und Weltverständnis als Voraussetzung
In seinen pädagogischen Vorträgen hat Rudolf Steiner immer wieder Anregungen gegeben, wie man seine berufliche Identität als Pädagoge so pflegen kann, dass aus ihr Kraft für den Alltag entspringt. Dazu gehört auch die Art der Vorbereitung auf den Unterricht. Bedingung dafür ist „Menschenerkenntnis“: „Daher ist es so schwierig, über die sogenannte Waldorfschul-Pädagogik zu sprechen. Denn Waldorfschul-Pädagogik ist nicht eigentlich etwas, das man lernen kann, über das man diskutieren kann, sondern Waldorfschul-Pädagogik ist eine reine Praxis, und man kann eigentlich nur beispielhaft erzählen, wie in diesem oder jenem Falle für dieses oder jenes Bedürfnis die Praxis ausgeübt wird. Denn das ist immer die Bedingung, dass die entsprechende Menschenerkenntnis vorhanden ist, wenn man von dieser Gesinnung ausgeht.“1
Es gibt zwei Voraussetzungen, um an der Entwicklung des Kindes selbst ablesen zu können, wie der Unterricht inhaltlich und methodisch am besten zu gestalten ist:
Man braucht Grundkenntnisse über die kindliche Entwicklung.
Zudem muss man sich eine Übersicht über die großen Stoffgebiete und Lebenszusammenhänge verschafft haben, die Rudolf Steiner in seinen Vorträgen und Hinweisen für die Lehrer gegeben hat.
Darüber hinaus sind die Lehrer völlig frei, wie sie den Bezug zu den Kindern herstellen, was sie aus der Stofffülle auswählen und in welcher Form sie es im Klassenzimmer darstellen. Damit einen diese umfassende Freiheit nicht verunsichert, greift man am Anfang noch auf bewährte Vorbilder und schriftliche Quellen zurück.
Unterrichten mit und ohne Schulbücher
Zur Kraftquelle wird die Unterrichtsvorbereitung jedoch erst, wenn man sich so tief für die Themen interessiert, dass man beispielsweise seine Ferienpläne nach der historischen Gegend richtet, über die man im kommenden Schuljahr seiner Klasse erzählen will. Insbesondere in den ersten Jahren ist es notwendig, sich intensiv mit den zu unterrichtenden Sach- und Fachzusammenhänge auseinanderzusetzen, dass man sich diese im wahrsten Sinn des Wortes aneignet – manchmal bis in die Freizeit hinein. Denn alles, wofür man sich begeistert und dadurch wirklich versteht, wird zur Kraftquelle. Dann erleben die Schüler jede Unterrichtsstunde als Unikat, als ein Geschehen, das sich zwischen Lehrer und Schülern in freier Begegnung und gemeinsamer Arbeit entwickelt.
Natürlich ist es einfacher, aus einem Schulbuch vorzutragen. Die Schüler erleben dabei aber einen Mangel an Identifikation und Expertise in Bezug auf das solchermaßen Vorgetragene. Sie beobachten und empfinden: „Was ich hier lernen soll, wissen meine Lehrer genauso wenig wie ich. Es liegt ihnen nicht wirklich am Herzen, interessiert sie nicht. Denn sie müssen dazu genauso nachlesen wie ich.“
Warum sollte ich etwas lernen, das so bedeutungslos ist, dass meine Lehrer es offenbar auch wieder vergessen haben?
Auch wenn Schüler sich dieses Empfinden nicht bewusstmachen, wirkt sich dieser Tatbestand doch auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis aus. Viele Disziplinprobleme haben ihren Grund darin, dass frustrierte Schüler und verunsicherte Pädagogen Mühe haben, sich über die Lerninhalte von Mensch zu Mensch zu begegnen. Eine Schweizer Abiturientin sagte mir einmal: „In der Schule mussten wir immer alles Mögliche auswendig lernen. Man konnte damit nicht viel anfangen. Das, was mich wirklich interessierte, musste ich mir selber beibringen.“
Mit dem Kind zum Kinde werden
Rudolf Steiners Empfehlung in Bezug auf das Unterrichten ist: „Sie sollen die Fähigkeiten in sich entwickeln, die in dem Augenblick, wo Sie sich auf irgendeinem Unterrichtsgebiet mit dem Kinde beschäftigen, Sie sich von diesem Unterrichtsgebiete so absorbiert sein lassen, wie das Kind von dem Unterricht absorbiert wird, ganz gleich, was Sie behandeln. Sie sollten sich nicht von dem Gedanken durchdringen lassen: Ich weiß ja schon vieles andere, und ich richte das so her, wie es für das Kind passt, ich stelle mich so richtig über das Kind und richte alles, was ich dem Kind sagen will, so her, wie es für das Kind passt. – Nein! Sie müssen die Fähigkeit haben, sich so zu verwandeln, dass das Kind durch Ihren Unterricht förmlich aufwacht, dass Sie selbst mit dem Kinde zum Kinde werden. Aber nicht auf kindische Weise.“2
Heute würde man dazu sagen, dass Steiner sich „Unterricht auf Augenhöhe mit den Kindern“ wünschte. Er nannte es auch „Kameradschaft mit der Naturentwicklung“ (vgl. Waldorfpädagogik: Was die Lehrergesundheit fördert) – im Sinne des zu Beginn Angeführten.
Dann erst gilt „Und jene Begeisterung, die beim Lehrenden und Erziehenden aus einer innerlich erlebten und immer neu zu erlebenden Weltanschauung kommt, jene innerliche Begeisterung, die wird sich übertragen auf die Seelenverfassung der Kinder, die dem Lehrer anvertraut sind. Diese Begeisterung wird leben in alledem, was der Lehrer in der Schule erzieherisch machen kann.“3
Erleben von Freiheit im rechten Moment als Ziel
Weiter führt Steiner aus: „Das Größte, was man vorbereiten kann in dem werdenden Menschen, in dem Kinde, das ist, dass es im rechten Momente des Lebens durch das Verstehen seiner selbst zu dem Erleben der Freiheit kommt. Wahre Freiheit ist inneres Erleben und wahre Freiheit kann nur dadurch im Menschen entwickelt werden, dass man als Erzieher und Unterrichter so auf den Menschen hinschaut. Da sagt man sich: Freiheit kann ich dem Menschen nicht geben, er muss sie an sich selbst erleben.“4
„Gebe ich dem Menschen vor der Geschlechtsreife eine intellektualistische Erziehung, bringe ich an ihn abstrakte Begriffe heran oder fertig konturierte Beobachtungen, nicht wachsende, lebenssprühende Bilder, dann vergewaltige ich ihn, dann greife ich brutal in sein Selbst ein. Wahrhaft erziehen werde ich ihn nur, wenn ich nicht eingreife in sein Selbst, sondern abwarte, bis dieses Selbst selbst eingreifen kann in das, was ich in der Erziehung veranlagt habe.“5
Daher ist es so entscheidend, dass die Lehrer selbst diesem Entwicklungsideal der Freiheit zustreben, dass sie entsprechend authentisch vor den Schülern stehen und sich nicht auf Bücher und Autoritäten berufen, sondern auf das, wofür sie sich selbst begeistern und wozu sie aus eigener Einsicht stehen können.
Gebet für Lehrer
In diesem Sinne formuliert Rudolf Steiner in seinen Vorträgen über „Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis“ ein Gebet für Lehrer:
„‚Lieber Gott, mache,
dass ich mich in Bezug auf meine persönlichen Ambitionen
ganz auslöschen kann.‘
Und ‚Christus,
mache besonders an mir wahr den paulinischen Ausspruch:
Nicht ich, sondern der Christus in mir.‘
Wie gesagt, für die anderen Menschen mag es mancherlei Gebete geben, für den Lehrer gibt es gerade dieses Gebet zu dem Gott im Allgemeinen und zu dem Christus im Besonderen, damit in ihm der richtige Heilige Geist der wahren Erziehung und des wahren Unterrichts walten kann. Denn dies ist die richtige Dreieinigkeit für den Lehrer.“6
Vgl. Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, edition waldorf, Stuttgart, 2. überarbeitete Auflage 2020
- Rudolf Steiner, In: Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung, Sechster Vortrag, Ilkley, 10. August 1923, GA 307, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1986, S. 103 f.
- Rudolf Steiner, In: Erziehungskunst – Methodisch-Didaktisches, Achter Vortrag. Stuttgart, 29. August 1919, GA 294. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1990, S. 118.
- Rudolf Steiner, In: Die Methodik des Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens, Vierter Vortrag, Stuttgart, 4. April 1924, abends, GA 308, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1986, S. 59.
- Ebd., S. 73.
- Ebd., S. 74.
- Rudolf Steiner, In: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte geisteswissenschaftlicher Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen, Sechster Vortrag. Dornach, 20. April 1923, GA 306, Rudolf Steiner Verlag, Dornach 1989, S. 132.