Wie klare Begriffsbildung gelingt
Wie kann der Lehrer Unterricht so gestalten, dass eigene Erkenntnisprozesse bei den Kindern angeregt werden?
Welche Faktoren und Prinzipien sind dabei zu beachten?
Beispiel Unterrichtsfach Mathematik
Im Fall der Mathematik gibt Rudolf Steiner schon gleich für das erste Schuljahr den folgenden Rat: beim Einführen der Zahlen darauf zu achten, dass Zahlen nicht als Eigenschaften sichtbarer Objekte oder Mengen gelehrt werden, sondern als das, was sie sind – reine mathematische Begriffe, d.h. vorstellungsfreie, nur gedanklich zu erfassende Ordnungsprinzipien.
- Von der Beobachtung zur Begriffsbildung
Wie kann man mit Erstklässlern abstrakte Zahlenbegriffe unabhängig von der Objektwelt erarbeiten?
Kinder in diesem Alter leben ja noch nicht in gedanklichen Abstraktionen, sondern noch ganz in ihren Sinneserfahrungen. Rudolf Steiner gibt dazu die Anregung, z.B. zu den Zahlen Fragen zu stellen, die sowohl zu eigenen Beobachtungen als auch zu konkreten Begriffsbildungen führen, ohne dass sich diese beiden Erfahrungsfelder undurchschaubar vermengen. So kann man etwa die Zahl Vier mit der Frage einführen:
Welche Tiere gehen auf vier Beinen?
Jemand sagt: der Hund.
Welche Tiere kennt ihr noch, die auf vier Beinen gehen?
Da kommen dann viele Beispiele, es wird sehr lebendig im Unterricht. Man erfährt, in welchen Ländern die Kinder schon waren, welche Tiere sie im Zoo gesehen haben. Es ergibt sich dann natürlich auch, dass die Zahl Vier zu allen „Vierbeinern“ gehört. Weil es aber dabei um kein bestimmtes Tier mehr geht, sondern um alle (vierbeinigen) Tiere, erleben die Kinder einen an sich nur begrifflich zu fassenden Abstraktionsvorgang. Dann aber geht es erst richtig los: Es gibt auch Tische mit vier Beinen, Autos auf vier Rädern, manche Kinder wissen schon, dass es vier Himmelsrichtungen gibt, sogar vierblättrige Kleeblätter und vieles mehr.
- Welt der Sinne und Welt der Gedanken unterscheiden
Dadurch bemerken und erleben sie ganz selbstverständlich, dass Zahlen keine Eigenschaften sinnlicher Dinge sind, sondern ordnende Gliederungen, Prinzipien, d. h. Begriffe – also etwas rein Gedankliches, „Unsichtbares“, womit man die sichtbare Welt „be-greifen“ kann, wodurch man verstehen kann, wie die Sinneswelt gegliedert und geordnet ist. Die Kinder empfinden auf gesunde Weise – ohne Gedankliches und Sinnliches zu vermischen –, dass die Welt der Beobachtung durch die Sinne und die Welt der unsichtbaren Gedanken zwei Bereiche sind, die der Mensch als die Fundamente seiner Erkenntnisbildung zur Verfügung hat.
Selbstverständlich wird der Erstklässler diese philosophischen Aspekte nicht reflektieren. Für den Lehrer ist dies jedoch notwendig; denn würde er den Kindern die Zahlen rein sinnlich an Rechenstäben oder Kastanien vorführen, die abzuzählen und als Menge zu verstehen sind, so erlebt das Kind eine Konfusion zwischen der Welt sinnlicher Beobachtung und der Welt gedanklichen Begreifens. Kastanien sind keine Zahlen und die Vier ist keine Eigenschaft von Kastanien. Die einzelne Zahl sollte vielmehr unabhängig von einer bestimmten Vorstellung eines Objektes als nicht sinnlich gegebenes, rein gedanklich-geistiges Ordnungsprinzip erfahren werden.
- Zahlen in ihrer wesenhaften Qualität erleben
Dadurch wird der Gefahr einer unklaren Vermischung von real Gegebenem – den Kastanien oder verschiebbaren Holzrädchen am Abakus – und der vorstellungsfreien, rein begrifflichen Gedankenwelt vorgebeugt. Es wird dadurch aber auch vermieden, dass der Umgang mit den Objekten, an denen das Erfassen der Zahl gelernt werden soll, langweilig oder lebensfremd erscheint. Diese Objekte – z.B. die Kastanien oder der Abakus – haben ja so, wie sie im Klassenzimmer erlebt und benützt werden, mit dem realen Leben nichts (mehr) zu tun und erscheinen als etwas kalt Abstrakt-Intellektuelles, wodurch die Zahlen auch irgendwie alle gleichartig werden und sich nur durch ihre jeweilige Mengendefinition voneinander unterscheiden. Die Eins aber – die alles umfasst, in der z.B. die ganze Schöpfung enthalten sein kann –, ist von ihrer Qualität her völlig verschieden von der Zwei, die etwas ganz anderes in der Welt anzeigt: nämlich Entzweiung, Spaltung, Polarisierung. Entsprechend muss sie auch anders erlebt und begriffen werden.
Kinder zu eigenen Erkenntnissen befähigen
Schon dieses einfache Beispiel kann verdeutlichen, warum die Ausbildung zum Waldorflehrer über die rein fachliche und methodische Kompetenzentwicklung hinausgehen muss. Der Lehrer muss darüber hinaus befähigt werden, eigene Beobachten und Erkenntnisprozesse beim Kind anzuregen (vgl. Waldorfpädagogik: Bedeutung von Eigenaktivität für Lernprozesse).
Gelingt dies, so ist jede Unterrichtsstunde dazu angetan, die Ausbildung geistiger Gesundheit zu fördern. Denn das Kind hat das Erleben: Ich selber habe das begriffen. Mir wurde nichts erklärt, sondern etwas gezeigt, was ich eigentlich schon wusste. Selbstvertrauen und Vertrauen in die eigenen geistigen Fähigkeiten sind die Folge.
Vgl. „Hilfen im Umgang mit Angst im Schulalter“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013