Die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes
Worin zeigt sich die Gottebenbildlichkeit des physischen Leibes?
Was will sie uns sagen?
Um einige Grundmotive zur Frage der Gottebenbildlichkeit des Menschen darzustellen, beginne ich mit der physischen Ebene.
Der Mensch als Weg zu Gott
Damit wären wir schon bei den mythologischen Darstellungen des Alten Testamentes: „Gott schuf den Menschen nach Seinem Bild“.1 Das heißt genau genommen: Wenn der Mensch Gott begegnen will, wenn er zu Gott finden will, muss er sich an den Menschen halten, denn Gott hat Sein Bild auf der Erde zurückgelassen – und indem wir dieses Menschenbild richtig verstehen, zeigt sich uns auch ein Weg zu Gott. Das macht das Wesen unserer Anthroposophie aus: dass die Menschenweisheit zur Gottesweisheit werden möchte. „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“2 Der Mensch als Weg zu Gottes Bild. Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie wir von dem einen zum anderen kommen.
Ich hatte durch meine kinderärztliche Tätigkeit über viele, viele Jahre die Chance, Tausende von Kindern zu beobachten, vor allem Kinder in ihren ersten Lebensjahren, als Schulärztin aber auch ältere Kinder – das war etwas unglaublich Anrührendes.
Botschaften der Kindesnatur
Es ist mir heute ein Rätsel, wie lange es brauchte, bis diese Kindesnatur mir wirklich etwas zu sagen begann, bis diese Kinder in ihrer Lebensrealisierung im ersten, zweiten und dritten Jahr tatsächlich anfingen, mir durch ihre körperlichen Offenbarungen höhere Botschaften zu übermitteln.
Ich wusste von Rudolf Steiner natürlich schon lange, dass Kinder, die aus der vorgeburtlichen Welt kommen, in den ersten drei Jahren noch ganz unter dem Schutz der dritten Hierarchie stehen. Sie sind noch ganz in die Aura der Christuswesenheit einverwoben und lernen den Weg, die Wahrheit und das eigene Leben durch das Erlernen des Gehens, Sprechens und Denkens kennen. Sie haben eine unbewusste Christusbegegnung, indem sie es erlernen – das sind ganz wunderbare Tatsachen! Ich durfte jedoch erleben, dass es einen großen Unterschied macht, ob man etwas weiß und schätzt, vielleicht auch bewundert als Steiners Gedanken, oder ob man wie vom Blitz getroffen wird von der Erkenntnis: Das ist ja alles wahr!
Das Morgenstern-Wort – „Die zur Wahrheit wandern, wandern allein“3 – ist auch Seelenwort insofern, als man plötzlich von alleine erkennt, dass diese oder jene Aussage Steiners wirklich stimmt. Dann wird man frei von denen, die einem die Botschaft ursprünglich übermittelt haben. Rudolf Steiner war es ein großes Anliegen, dass die Anthroposophie uns hilft, selbst hinzuschauen, selber zu verstehen. Er wollte gerade nicht als Guru, als Autorität, missverstanden werden. In der „Theosophie“4 sagt er sinngemäß: Nicht glauben sollst Du, was ich Dir sage, sondern es denken (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Weg zur Wahrheit). Mach Dich doch selbständig durch Dein eigenes Denken, Dein eigenes Hinschauen, durch Dein eigenes Beobachten. Nur dann treten wir uns als Freunde gegenüber, die sich gegenseitig helfen können auf dem Erkenntnisweg. Vom Wissen zum Erleben zu kommen, ist ein Riesenschritt, den zu nehmen bei mir lange gedauert hat (vgl. Anthroposophie: Anthroposophie als Weg zur Wahrheit).
Die ersten drei Jahre als Offenbarung der Gottebenbildlichkeit
Ich werde nie vergessen, wie ich eines Tages im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung bei einem anderthalbjährigen Kind die verschiedenen Funktionen anschaute und es beobachtete und mir plötzlich klar war, dass die ersten drei Jahre wirklich wie eine Offenbarung der Gottebenbildlichkeit sind:
Das ganze erste Jahr hindurch versucht das Kind allem voran nur eines: diesen kleinen Menschenleib in die Vertikale, in die Aufrichte, zu bringen.
Erst wenn das gelungen ist, wenn es sich aufrecht platziert hat, beginnt im zweiten Jahr die Öffnung in die Horizontale: über das Sprechen, das Zeigen und Anfassen mit den Händen, über die Bewegung nach vorne mit den Füßen, das Gehen usw.
Wenn das Kind im dritten Jahr schließlich zu sich kommt und sich seiner selbst bewusst wird mit den Worten – „Ich bin“ – schließt sich ein Kreis.
Die Worte „Ich bin, der ich bin“5 werden ja als „unaussprechlicher Name Gottes“ bezeichnet. Den Namen „ich“ kann jeder Mensch nur zu sich selber sagen, deswegen ist er in Bezug auf einen anderen unaussprechlich. Beim Kind beginnt das Sich-seiner-selbst-bewusst-Werden im Erleben des Gedankens: Ich bin da. Ich bin hier. Ich bin ich. Kein Kind spricht das sofort aus – die Worte kommen erst später, folgen auf das archetypische Erleben: Ich bin wirklich hier!
Das Mysterium des Ich
Ich bekam von jemandem eine wunderschöne Karte mit dem Symbol des Rosenkreuzes: Sie zeigte das Kreuz bestehend aus der Vertikalen, Sinnbild für die Aufrichte, und der Horizontalen, Sinnbild für die Sprache, die Kommunikation, umgeben von einem Kranz aus Rosen, der ausdrückt, dass sich die beiden Richtungen und der Umkreis zusammenschließen in dem Gedanken: Ich bin ich.
Das Mysterium des Ich umfasst nicht nur die Tatsache, dass wir auf eigenen Füßen stehen und uns beweglich in der Aufrichte positionieren können. Dazu gehört auch das Erleben, dass wir mit jeder Bewegung und jeder Begegnung einerseits die Welt entdecken, aber auch an uns selbst schaffen, uns weiter und weiter selbst erschaffen: Jede Bewegung bedeutet so gesehen ein Stück Selbstentwicklung.
Diese Zusammenhänge leben uns die Kinder in einer Weise vor, wie wir als Erwachsene nur davon träumen können! Dazu gehören auch ihr Drang und ihre Freude, auf alles zugehen, allem begegnen zu wollen! Es ist allerdings Sache der Erwachsenenschulung, diesbezüglich ein Mittelmaß zu finden…
Das Kind als Inbegriff von Weg, Wahrheit und Leben
Ich merkte damals, wenn man diese enorme Anstrengung der ersten drei Jahre wirklich selber zu fühlen beginnt, beginnt man tatsächlich auch eine zweite Aussage Rudolf Steiners zu verstehen: Wer die Worte der Evangelien nicht kennt und sich nur mit der Entwicklung von Natur und Mensch befasst und die Entwicklungstatsachen wirklich zu sich sprechen lässt, wird auf diese Weise dem schöpferischen Logos begegnen und in die Lebenssphäre gelangen. Dass das so ist, wurde mir an jenem Tage vor vielen Jahren bewusst. Denn als ich sah, wie das Kind auf die eigenen Füße kommt und die ersten Schritte macht, fiel mir das Evangelien-Wort ein: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“6
Seine Art sich zu entwickeln weist uns den Weg.
Das Kind ist aber auch die Wahrheit: Denn im Alter des Sprechen-Lernens sagen wir ausschließlich die Wahrheit, sind wir durch und durch ehrlich. Egal, was ab dem Alter von etwa drei Jahren kommt, in dem wir zu denken beginnen, egal, welche Abstürze, welche Heimlichkeiten, welches hinterhältige Versteckspiel darauf folgen – wir können alle sicher sein, dass wir mindestens zwei Jahre lang nur die Wahrheit gesagt haben. Das kann uns keiner nehmen – das ist einfach so in diesen ersten zwei Jahren.
Dann die dritte Aussage: Ich bin das Leben: Mit dem Ich-Sagen fangen wir ein Leben in Gedanken an, ein völlig neues Leben.
Im Menschen abgebildete Schöpfungsgeheimnisse
Ich hatte angesichts dieser Entwicklungszusammenhänge plötzlich den Eindruck, dass sie sich zu einem Bild zusammenfügen, das von den höchsten Geheimnissen der Beziehung von Gott, Mensch und Schöpfung spricht (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Der Mensch als Offenbarung des Göttlichen). Der Satz des Alten Testamentes über die Bildnatur, die Gottebenbildlichkeit, des Menschenmannes, weist bereits darauf hin: Je mehr man den Menschen versteht, desto mehr offenbaren sich einem die schöpferischen Wesenheiten, die an der Menschenbildung, wie sie geschehen ist, beteiligt waren, und die sich durch den Menschen offenbaren wollen. Damit hat man einen ganz praktischen phänomenalen Zugang zur Anthroposophie. Denn alles an der Anthroposophie ist tatsächlich anthroposophisch, sprich: Menschenwesenheit und Menschenweisheit offenbarend. Das ist der eine Aspekt.
Zur Abrundung noch ein zweiter Aspekt, den jeder auch für sich selbst ableiten kann. Der Archetyp der aufrechten Menschengestalt weist auf eine bestimmte Ordnung hin:
Ich hatte angesichts dieser Entwicklungszusammenhänge plötzlich den Eindruck, dass sie sich zu einem Bild zusammenfügen, das von den höchsten Geheimnissen der Beziehung von Gott, Mensch und Schöpfung spricht. Der Satz des Alten Testamentes über die Bildnatur, die Gottebenbildlichkeit, des Menschenmannes, weist bereits darauf hin: Je mehr man den Menschen versteht, desto mehr offenbaren sich einem die schöpferischen Wesenheiten, die an der Menschenbildung, wie sie geschehen ist, beteiligt waren, und die sich durch den Menschen offenbaren wollen. Damit hat man einen ganz praktischen phänomenalen Zugang zur Anthroposophie. Denn alles an der Anthroposophie ist tatsächlich anthroposophisch, sprich: Menschenwesenheit und Menschenweisheit offenbarend. Das ist der eine Aspekt.
Zur Abrundung noch ein zweiter Aspekt, den jeder auch für sich selbst ableiten kann. Der Archetyp der aufrechten Menschengestalt weist auf eine bestimmte Ordnung hin:
Das abgerundete Haupt bildet wie eine eigene Sphäre, die sich vom Kosmos abschnürt. Das Besondere daran ist, dass der Kopf nur beim Menschen oben sitzt und nicht wie beim Tier vorne. Die Sprache der Vertikale besagt außerdem, dass alle anderen Teile der menschlichen Gestalt – Herz, Hände, Bauch, Hüften, Beine, Füße und die Fortpflanzungsorgane natürlich auch – diesem Kopf untergeordnet sind. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen offenbart also, dass das Haupt tatsächlich führt und dass der Blick, weil es oben sitzt, in die Welt hinausgeht, nach vorne, in die Zukunft. Das bedeutet gleichzeitig, dass wir uns frei machen können von unserer Vergangenheit, was sich auch darin ausdrückt, dass wir nach hinten hin abgeschlossen sind. Wenn wir in die Vergangenheit schauen wollen, müssen wir uns umwenden, müssen uns aktiv dafür interessieren.
Unsere Ohren sind horizontal angeordnet, ganz in die Weite, zur Welt, gerichtet.
Wenn wir unsere Hände in der anatomischen Position zusammenführen, befinden sie sich unmittelbar in einer Haltung des Nehmens. Umgedreht eignen sie sich nur zum Tragen, zum Koffer- oder Taschentragen. Alles andere, was mit den Händen geschieht, muss mittels Fühlen, Wollen und Denken vom Menschen selbst bestimmt werden.
Die Hände und Schultern sind anatomisch-physiologisch nicht nur die Organe mit den größten Freiheitsgraden, sondern sie sind wirklich die Organe der Freiheit: Jeder Gebrauch hängt ab von den Motiven, mit denen der Mensch sich zum Handeln – und wir Ärzte zum Behandeln entschließt – und seine Hände entsprechend in Bewegung setzt. Alles Handeln muss, wenn es gottebenbildlich sein soll, aus Freiheit und Liebe geschehen, sonst missbrauchen wir die Hände und die Gottebenbildlichkeit (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte).
Und so können aus jedem Organ kraft seiner Position Rückschlüsse gezogen werden auf Fähigkeiten und Möglichkeiten, die auf ein höheres Menschsein hinweisen: Vor allem die Tatsache, dass wir aufrecht auf unseren Beinen stehen können, dass unser Kopf dabei oben sitzt, getragen von unserem Rückgrat und das Herz sich in der Mitte, im Inneren befindet – vermittelnd zwischen allem und in seinem „Innensein“ gleichzeitig zentriert – spricht von Fähigkeiten, die wir seelisch-geistig erst erringen müssen:
Wer trägt schon den Kopf oben?
Wer hat ein starkes Rückgrat?
Wer steht tatsächlich auf eigenen Füßen und ist nicht von tausend Dingen abhängig?
Wir merken an diesen Fragen, dass die Gottebenbildlichkeit ein Zukunftsgedanke ist, der uns höchste Verehrung abfordern sollte. Denn mit dem physischen Leibe haben wir heute schon unser Werden, unsere Zukunft, im Bilde vor uns. Es beinhaltet auch die folgende Geste: Aus der Schöpfung heraus bin ich in dieses Leben hineingestellt. Gottebenbildlichkeit spricht von Gott, vom Vater und seiner Schöpfung und bedeutet zugleich auch: „Ex deo nascimur“7 .
Vgl. Vortrag „Gottesebenbildlichkeit und Heiligkeit des menschlichen Leibes“ an der JK, Dornach 2014
- Altes Testament, 1. Buch Mose 1, 27.
- Rudolf Steiner, Anthroposophischer Leitsatz 1, 17. Februar 1924. In: Anthroposophische Leitsätze. GA 26, S. 6 (1989).
- Christian Morgenstern, Die zur Wahrheit wandern. In: Christian Morgenstern, Stufen. 1922.
- Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9, 1. Kapitel.
- Altes Testament, 2. Buch Mose, 3, 14.
- Neues Testament, Johannes 14, 6.
- «Ex Deo nascimur, in Christo morimur, per Spiritum sanctum reviviscimus.» Rosenkreuzerspruch. Sinngemäße Übertragung ins Deutsche: «Aus dem Göttlichen weset die Menschheit… In dem Christus wird Leben der Tod… In des Geistes Weltgedanken erwachet die Seele.» In: Alexander Strakosch, Lebenswege mit Rudolf Steiner. 1947, S. 179.