Alltag als künstlerische Herausforderung

Wie kann man Alltagsroutine künstlerisch in einen lebendigen Prozess verwandeln?

Routine als Herausforderung

Routine allein wird dem Alltag nicht gerecht. Routine ist oft ein Ausdruck von etwas Krankhaftem. Routine ist nur dann gut, wenn sie eine stützende, strukturierende Rolle spielt, sodass man in dieser Zeit an etwas denken kann, das Freude macht – dann ist sie gerechtfertigt.

Zu einem Problem wird die Routine, wenn die Seele sich an sie anpasst und das Seelenleben grau und regelmäßig wird und der Geist „auf Urlaub“ geht in der Zeit und man auf ihn und seine Möglichkeiten vergisst. Da kann es helfen, sich den Alltag unter dem künstlerischen Aspekt anzuschauen und sich zu fragen, wie der Ablauf von morgens bis abends zu einer künstlerischen Herausforderung werden könnte. Man kann sich bei den Dingen, die man zu tun hat, überlegen, wie sie noch ein bisschen kreativer, identifizierter und mit etwas mehr Freude gestaltet werden könnten (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Inkarnation). Dadurch entwickelt sich eine Lebenshaltung, die einen selbst und andere stärkt.

Wenn man sich aber durch den Alltag so in die Enge getrieben fühlt, dass man zu solchen Überlegungen gar nicht mehr in der Lage ist, sollte man den Mut aufbringen, sich eine Auszeit zu nehmen, um darüber nachzudenken, durch welche Wendung man dem Leben eine neue Richtung geben könnte (vgl. Biographiearbeit: Rückschau auf das eigene Leben).

Künstlerisches Tun als Entwicklungshilfe

Im künstlerischen Bereich kann man an sich arbeiten und Stress haben, man kann das künstlerische Tun aber trotz der eigenen Unzulänglichkeit und dem Wissen, es könnte alles noch besser und schöner sein, als der Mühe wert erleben. Typisch für die hohen Ansprüche an sich selbst in der Kunst ist die Opernsängerin, die wegen eines nicht ganz passenden Tones in einer Arie zerknirscht in ihrer Garderobe sitzt, obwohl das Publikum Blumen warf. Als Künstler will man immer höher hinaus – und entwickelt sich dabei.

Beim künstlerischen Tun, beim Üben, halten sich Schmerz und Freude die Waage, wenn der Übende spürt, dass er auf einem Weg ist, der Sinn macht, weil er seine Fähigkeiten bei dem, was er tut, immer weiter entwickelt (vgl. Identität und Ich: Kunst als Weg zur Ergreifung des Ich). Wenn Sie noch keine künstlerische Tätigkeit ausüben, sollten Sie deshalb eine aufgreifen – Musikmachen, Malen, Plastizieren, Tanzen – Sie sollten irgendetwas zu üben beginnen, was Sie noch nicht beherrschen, was Sie erst erlernen müssen.

Ich selbst setzte das in einer Lebenssituation um, in der ich das Gefühl hatte, für nichts mehr Zeit zu haben, zu gar nichts mehr zu kommen: Ich wollte immer gerne Klavierspielen lernen, hatte bisher aber nie die Möglichkeit dazu gehabt. In dieser Situation kaufte ich mir ein Buch zum Selbststudium und begann jeden Tag fünf Minuten zu üben. Und Sie glauben nicht, wie weit Sie in einem Jahr kommen können! Das färbte auf meinen Alltag ab und verwandelte ihn in einen genauso spannenden Prozess wie das Klavierspiel.

Alltag als Schulungsfeld in Lebenskunst

Durch Lebenskunst im Alltag können Sie Ihre Tage besser und entspannter handhaben lernen.

Als Kinderärztin, die jahrelang viele Kinder und Familien betreute, wurde ich einmal von einer Hausfrau und Mutter gefragt, ob ich ihr nicht einen Rat geben könnte, in Bezug auf die leidige Hausarbeit, die für sie zu einer tödlichen Routine geworden wäre. Sie hätte nicht das Geld, diese Arbeiten an jemand anderen abzugeben und müsste sie deshalb selbst erledigen, würde aber viel lieber etwas anderes machen.

Ich riet ihr, sich zu überlegen, welche spezifisch menschlichen Qualitäten und Charaktereigenschaften sie sich erwerben würde, wenn sie sich vornähme, drei Jahre lang so gut und liebevoll, wie sie könnte, diese ungeliebte Arbeit zu erledigen (vgl. Muttersein: Den Mutterberuf bejahen lernen). Dabei sollte sie sich damit so stark wie nur möglich identifizieren. Nach drei Jahren sollte sie sich die Situation neu anschauen und herausfinden, ob und wieweit sie diese Qualitäten entwickelt hätte.

Wenn Sie eine solche Anregung aufgreifen, wird es Ihnen wahrscheinlich gehen wie dieser Frau: Sie werden viel weniger Zeit brauchen für dieselbe Arbeit. Sie werden sich in einen fröhlicheren Menschen verwandeln, weil sie wissen, warum Sie tun, was Sie tun. Sie werden sich nach der Arbeit nicht erschöpft fühlen, sondern gekräftigt. Ihr ganzes Leben wird eine andere Qualität bekommen, weil das, was Sie denken und das, was Sie tun, plötzlich übereinstimmen.

Gespalten-Sein überwinden

Der größte Krafträuber ist unser Gespalten-Sein, wenn wir das eine denken und das andere tun. Oft gehen die Gefühle nochmals in eine andere Richtung und wünschen etwas anderes, etwas Drittes. Dann sind wir als Person wie auseinander gerissen.

Der Ausweg liegt in dem Bemühen „die losen Enden“ wieder zusammenzubringen, indem wir den Entschluss fassen, das, was wir tun, wirklich identifiziert zu tun. Wir können uns bei dieser Übung immer wieder folgende Fragen stellen:

Beherrsche ich meine Stimmungen?

Kann ich mich selbst „stimmen“?

Kann ich bestimmen, wie ich auf andere zugehe, wie ich durch den Tag gehe?

Agiere ich oder reagiere ich in meinem Gefühl?

Man kann sich dadurch selbst ganz neu als „Unternehmer“ im eigenen Seelenleben entdecken.

Aus dem Vortrag „Gesundheit und Lebensfreude im Alltag“, Basel, 25.11.2007