Anthroposophischer Kunstimpuls und Kunsttherapie
Was liegt dem anthroposophischen Kunstimpuls zugrunde?
Welche therapeutischen Prinzipien kommen in der Kunsttherapie zum Tragen?
Selbstdarstellung und geistige Gestaltungsprinzipien
Der Mensch kann seine menschliche Konstitution, die aller Kunst zugrunde liegt, auf zweifache Weise handhaben, das hat Leonardo da Vinci in seinem Buch für Maler1 ganz wunderbar beschrieben:
Er könne sein So-Sein unbewusst in seinem künstlerischen Schaffen abbilden.
Er könne sein künstlerisches Schaffen aber auch bewusst an den geistigen Gestaltungsprinzipien, die der menschlichen Konstitution zugrunde liegen, ausrichten.
Man müsse deshalb zwischen dem ungeübten Künstler und dem geschulten Künstler, unterscheiden, zwischen dem Laien und dem professionellen Künstler. Leonardo sagt: Der ungeübte Künstler würde nicht bemerken, dass er sich selbst darstellt in seinen Werken. Der geübte Künstler dagegen wisse um diesen Impuls und gebe ihm nicht nach. Er orientiere sich an den objektiven Gestaltungsmöglichkeiten, an den Formprinzipien, die er in der Welt und am eigenen Leib wiederfindet und drückt sie aus durch Farben, Formen, Laute und Worte, die seinem freien, innersten Willen entspringen.
Jeder Mensch sei erst einmal ein Laienkünstler, dem es beim Schaffen und Genießen von Kunst um sich selbst geht. Ein dreijähriges Kind gestaltet seine Werke aus der klassischen, alterstypischen Projektionskraft ätherischer Gestaltungskompetenz heraus. Es bildet den Kopf, in dem gerade das Ich-Bewusstsein erwacht ist, äußerlich ab, d.h., es projiziert unbewusst seine altersentsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten aufs Papier und freut sich über das, was es geschaffen hat, weil es sich selbst darin erlebt.
Orientierung am Gesunden
In der anthroposophischen Kunsttherapie lässt man Patienten nur am Anfang, in der Mitte und am Ende frei malen. Die frei gemalten Bilder dienen ausschließlich der Diagnostik. Denn wenn jemand in einer entspannten Atmosphäre ganz aus sich heraus malt und sich selbst dabei ausdrückt, dann erlaubt die Gestaltung seines Bildes Rückschlüsse auf seinen augenblicklichen Gesundheitszustand. Wenn Goethe sagt: „Die Kunst ist eine Offenbarerin geheimer Naturgesetze“, so weist er damit auf die Zusammenhänge des menschlichen Leibes mit den künstlerischen Tätigkeiten und deren Beziehungen zum Seelenleben hin: Hätten diese schöpferischen Kräfte nicht zuvor unseren Leib gestaltet, trügen wir sie nicht als kreatives Potential in unserer Seele, das unseren Selbstausdruck bestimmt.
Die Therapie besteht nun darin – und das hat die Kunsttherapie mit der Kunst gemeinsam – einen Weg in Richtung Gesundung zu suchen. Das geht über den reinen Selbstausdruck weit hinaus. Dieser künstlerische Prozess kann wiederum zwei Richtungen nehmen:
Entweder der Künstler gestaltet, indem er über Skizzen und Andeutungen auf das hin lauscht, was Form oder Farbe selber wollen,
oder er stellt seine Gestaltungskraft den großen spirituellen Wahrheiten der Welt zur Verfügung und macht sie sichtbar, sodass Menschen daran etwas erleben können, das sie schult, das sie zum Guten, zum Vollkommenen hinzieht, das sie heilt.
Entwicklungsgesetze aufgreifen
Künstler, die sich darum bemühen, wirken mit ihrer Kunst heilsam und zukunftsorientiert, eine ferne heile Zukunft vorausahnend. Sie können es, weil ihre Werke den umfassenden Entwicklungsgesetzen der Menschheit folgen. Diese wiederum erschließen sich nur durch meditatives Üben und so bekommt die Kunst wieder direkt Anschluss an die Mysterienweisheit: Der meditativ Übende, der sich innig mit den großen Welten- und Menschheitszielen verbindet, wird zugleich auch zum künstlerisch Schaffenden. Indem er diesem zukunftsorientierten Impuls zu folgen versucht und sich in die großen Gestaltungszusammenhänge von Menschheit und Welt zu stellen bemüht, ringt er darum, über sich selbst und die Projektion seines eigenen Zustandes hinauszuwachsen, um noch ganz andere Inspirationsquellen für seine Kunst erschließen zu können. Das ist das Hauptanliegen des anthroposophischen Kunstimpulses: wahre Ur-Gestaltungsformen und entwicklungsorientierte Weltgesetze aufzugreifen, die die Menschheit in ihrer Entwicklung vorwärtsbringen.
Vgl. Vortrag „Wege zum Herzdenken durch meditatives und künstlerisches Üben“ Dornach, 2007
- Leonardo da Vinci, Das da Vinci Universum - Die Notizbücher des Leonardo, (Hrsg.: Emma Dickens), Ullstein Verlag, Berlin 2006.