Macht und Freiheit

Inwiefern hängen Macht und Freiheit zusammen?

Wird uns Macht gegeben oder sind wir als Menschen per se mit Macht begabte Wesen?

Fünf wesentliche Aspekte von Macht

Es gibt fünf Aspekte der Macht, die ich im Folgenden nennen möchte.

  • 1. Auch Ohnmacht ist Macht

Selbst wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, so sind wir doch alle machtvolle Wesen, selbst wenn wir uns ohnmächtig fühlen und aus diesem Gefühl heraus NICHTS tun. Auch dann haben wir von unserer Macht Gebrauch gemacht und Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte ausgeübt. Jeder beeinflusst den anderen, wir alle haben Einfluss auf das Ganze.

  • 2. Willensäußerung als Machtausdruck

Jede Form von Willensäußerung ist zugleich ein Ausdruck unserer Macht. In welchem Kontext wir das erproben und einsetzen, hat mit dem Lebensalter und der Reife zu tun. In der sogenannten Trotzphase oder Autonomiephase erlebt das Kind erstmals seine Macht „nein“ zu sagen. Ohne diese Erfahrung könnte es auch nie bewusst und voll verantwortlich zu etwas oder jemandem „ja“ sagen.

  • 3. Beziehung als Raum der Machtausübung

Grundsätzlich gesehen, ist die Beziehung der Raum, in dem die Wirkung unserer Taten, Gefühle und Gedanken zum Tragen kommt. Hier zeigt sich, ob das, was wir in diesem Beziehungskontext denken, fühlen und tun negative oder positive Eigenschaften bei uns hervorruft, ob wir uns gefangen und ohnmächtig oder frei und verantwortlich fühlen (vgl. Beziehung(sfähigkeit): Himmel und Hölle in Beziehungen).

Würde das heißen, dass man jeden Konflikt auch einseitig bewältigen kann?

Grundsätzlich gehören zwei zu einem Konflikt. Tritt der eine beiseite und kämpft nicht mehr mit, ist jeder Streit beendet. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Beziehung dadurch automatisch „gerettet“ ist. Bei jedem Machtkonflikt habe ich zwei Möglichkeiten:

  • Ich kann mich ändern, unterziehe mich einer Schulung. Das macht immer Sinn. So gesehen kann ein Gewinn im Aushalten gewisser „unerträglicher“ Situationen liegen. Allein das ändert manchmal die Situation.

  • Oder ich entscheide mich zu gehen, die Beziehungssituation zu verlassen. Als Rudolf Steiner einmal gefragt wurde, ob es Gründe gäbe, eine Ehe zu trennen, antwortete er sinngemäß: „JA, wenn dadurch ein Partner in seiner Entwicklung behindert wird“. Solch eine Entscheidung für oder gegen eine Beziehung verlangt Mut und Ehrlichkeit sich selbst und dem anderen gegenüber.

Wille und Konstitutionsebenen

Es kann eine Hilfe sein, Willensäußerungen auf den unterschiedlichen Konstitutionsebenen des Menschen anzuschauen:

  • Physische Ebene:

Wille als Fakt geäußert, kann unmittelbar etwas bewegen.

  • Ätherische Ebene:

Wille in der Zeit gesehen resultiert in den biografischen Ereignissen.

  • Astralische Ebene:

Wille im Seelischen wirkt auf die Beziehungsgestaltung, die Art, wie wir aufeinander wirken und der Beziehung ihre besondere Qualität geben.

  • Ich-Ebene:

Hier üben wir Macht aus Kraft unserer Ich-Persönlichkeit. Ob man sich als Täter oder als Opfer erlebt, entscheidet nicht die Tat, die man erleidet, sondern die Art, wie das Ich damit umgeht, welchen Standpunkt es einnimmt – den des Opfers oder den des Täters, der weiß, dass er IMMER Verantwortung trägt für sein Leben.

Eindrucksvolle Beispiele für die Macht ich-haften Willens

  • Victor Frankl

Ein berühmtes Beispiel ist Victor Frankl, der sich auch als Gefangener im KZ innerlich als Täter seines Lebens sah, insofern als er sich verantwortlich fühlte für seine Reaktionen (vgl. Macht: „Die letzte Freiheit des Menschen“). Die Opferrolle, das Negieren seiner Entscheidungsmacht, war gegen seine Würde – und so kam er als Eingeweihter aus der Gefangenschaft zurück. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse gab er in seinem Buch „Trotzdem Ja zum Leben sagen“1 weiter. Das Ich entscheidet, wie es mit seiner Macht umgeht.

  • Iphigenie

Ein anderes Beispiel für die Macht des Willens aus dem Ich gibt uns Iphigenie2, als sie zum König, auf dessen Insel sie Zuflucht gefunden hatte und der sie mit ihrem Bruder Orest mit Schimpf und Schande davonjagen wollte, sinngemäß sagte: „So nicht, mein König. Ich schulde dir Dank bis ans Ende meiner Tage.“ Daraufhin ringt sich der König dazu durch, ihnen Lebewohl zu wünschen. Dadurch verwandelte sich im Moment des Abschieds die ganze Beziehung in Richtung Frieden anstelle von Streit.3

Das ist ein wunderbares Beispiel für proaktives Handeln aus dem Ich heraus. Das ist Ich-Kultur. Aus dieser Instanz, aus diesem Machtbewusstsein heraus können wir jeden Machtmissbrauch heilen, stoppen und verwandeln. Dadurch können wir sogar die Täter-Opfer-Rolle in unserem Bewusstsein umdrehen, wie wir es am Beispiel von Jesus vor Pilatus sehen können, als er sagte: „Du hättest keine Macht über mich, wäre sie dir nicht von einem Höheren gegeben.“4

  • 4. Macht Gottes – Macht des Schicksals

Beim Schicksalsaspekt geht es um die innere Grundausrichtung: Ob ich das, was mir begegnet, als von Gott oder den Schicksalsmächten „geschickt“ ansehe. Denn wenn ich das, was mir vom Schicksal geschickt wird, annehme als Herausforderung und Aufgabe, an der ich wachsen kann, werde ich genau in diesem Bereich meiner früheren Schwäche geschickt. Dann habe ich gelernt aus den Schicksalsherausforderungen und habe Geschicklichkeit im Sinne von neuen Fähigkeiten entwickelt.

Manchmal bremst uns das Schicksal aus, manchmal müssen wir selber erst „auf die Nase fallen“. Denn hier geht es um Selbsterziehung: dass wir im Laufe unseres Lebens lernen, konstruktiv mit Machtkonflikten umzugehen. Unter diesem Blickwinkel wird das Leben zum großen Erzieher des Charakters. Dann werden wir zunehmend zu „pflegeleichten“ Menschen, die wissen, dass die Entscheidung, wie sie mit einer Situation umgehen, immer bei ihnen liegt.

  • 5. Macht im christlichen Wertekontext

Jeder, der das Christentum zu verstehen anfängt, begreift, dass die Schicksalssituation als Teil einer Gesamtevolution, die zur Freiheit tendiert, angesehen werden darf (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte). In diesem großen Entwicklungsstrom können wir uns als tief geborgen empfinden, wie es der Theologe Dietrich Bonhoeffer5 zur vor seiner Hinrichtung so schön ausdrückt:

Von guten Mächten wunderbar geborgen
Erwarten wir getrost was kommen mag
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
Und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Machtmissbrauch als Kehrseite der Freiheit

Im Zentrum unserer Entwicklung steht die Freiheit – und das ist zugleich der Kern des Problems. Machtmissbrauch ist der Preis für die Freiheit. Freiheit bedeutet, dass man sich für das eine oder das andere entscheiden kann. Worum es im Grunde geht, drückte Jesus aus, als er sagte: „Vater, nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“ Göttlicher Wille nimmt sich vollkommen zurück und lässt den menschlichen Willen mit all seinen Abirrungen zu.

Auf der Ich-Ebene gibt es immer beide Möglichkeiten, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen:

  • klein beizugeben und sich dem fremden Wollen zu unterstellen oder
  • den Eigenwillen zu behaupten und dem anderen trotzdem seinen Willen zu lassen.

Das tiefste Macht- und Willensgeheimnis offenbart sich, wenn wir einerseits verstehen, dass es die Freiheit ist, die alle Wunden schlägt, die mit Machtmissbrauch zu tun haben, und dass andererseits die Liebe alle Wunden heilen kann. Rudolf Steiner sagte, dass Freiheit und Liebe zwei Seiten ein und derselben Sache seien. Machtmissbrauch ließe sich durch Verständnis heilen, dem Verzeihen und Vergeben folgt. Das ist Liebe in geistiger Form.

Das Machtthema ist das tiefste und wichtigste Thema der heutigen Zeit. Die Zukunft gehört denen, die bewussten Gebrauch von ihrem Willen machen.

Vgl. Vortrag „Macht und Freiheit“ an der Waldorfschule Heidenheim 2011

  1. Victor E. Frankl, „Trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychiater erlebt das Konzentrationslager“, 7. Aufl. München 1995.
  2. Johann Wolfgang von Goethe, Iphigenie auf Tauris ist ein Bühnenstück von nach der Vorlage von Euripides’ Iphigenie bei den Taurern.
  3. Das Drama „Iphigenie auf Tauris“ handelt von der Priesterin Iphigenie, die auf der Insel Tauris lebt. Iphigenie wird auf der Insel verehrt und geliebt. Allerdings hat sie starkes Heimweh und möchte unbedingt zurück zu ihrer Familie. Eines Tages kommt ihr Bruder Orest auf die Insel. Als ans Licht kommt, wer Iphigenie wirklich ist, und dass Orest die Staute der Diana von der Insel stehlen will, nimmt die Handlung eine spannende Wendung. Iphigenie muss sich entscheiden, ob sie gemeinsam mit ihrem Bruder von Tauris flieht oder zurückbleibt. Schlussendlich schaffen es beide, die Insel gemeinsam zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. (https://studyflix.de/deutsch/iphigenie-auf-tauris-zusammenfassung-3858, ges. 03.08.2023).
  4. Neues Testament, Johannes 19, 11.
  5. Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe und profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche. Er war am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. (https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 03.08.2023).