Zwischen Tod und neuer Geburt

Was ist unter Weltenmitternacht zu verstehen?

Wie lässt sich die Weltenmitternachtsstimmung charakterisieren?

Weltenmitternacht als Wendepunkt

Mithilfe einer kleinen Skizze aus der Anthroposophie lässt sich darstellen, dass wir zwischen Tod und Geburt die Planetensphären sowie die Fixsternregion durchqueren. Und so, wie wir auf der Erde von einer Mitte des Lebens sprechen, erreichen wir auch einen „Mitte“ zwischen Tod und einer neuen Geburt – von den Eingeweihten „Weltenmitternacht“ genannt. An diesem Punkt endet die Aufarbeitung des letzten Erdenlebens. Eine tiefe Ruhe tritt ein – in den esoterischen Traditionen spricht man auch vom „Ruhen in Gott“ oder vom „Ruhen in Abrahams Schoß“ oder vom „Schauen der Sonne um Mitternacht“. Das sind alles Bilder für die tiefste Gottes- und Sinnbegegnung, die der Mensch überhaupt erleben kann, wo er sich ganz und gar gerechtfertigt fühlt als sich entwickelndes Wesen. Die Weltenmitternacht ist die erhabenste Stimmung, die dem Grunde der Seele eines jeden Menschen eingeschrieben ist.

Im normalen Leben können wir immer dann etwas von dieser Weltenmitternachtsstimmung erspüren, wenn der „Augenblick zur Ewigkeit wird“, wie Goethe es formuliert, wenn man im Augenblick ganz und gar geistesgegenwärtig ist, d.h. wenn die folgende zen-buddhistische Meisterübung Praxis geworden ist: „Wenn ich liege, liege ich, wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich stehe, stehe ich und wenn ich gehe, gehe ich“. Durch diese absolute Präsenz finden wir Anschluss an unsere vorgeburtlichen Entschlüsse.

  • Vom Willen (Tun) bestimmtes Leben bis zur Weltenmitternacht

Wir tragen in das nachtodliche Leben alles herein, was wir mit unserem Willen durchdrungen haben, alle Ergebnisse unserer Taten, alle Willensimpulse, alle Wünsche und Sehnsüchte, alles, was wir eigentlich wollten, aber auch, was wir falsch gemacht haben. Die Willensqualität eines ganzen Erdenlebens tragen wir quasi in das nachtodliche Leben hinein, das bis zur Weltenmitternacht vom Willen bestimmt wird.

  • Vom Denken bestimmtes Leben nach der Weltenmitternacht

Das Herabsteigen dagegen, die Vorbereitung des nächsten Erdenlebens, wird vom Denken bestimmt (vgl. Denken: Entwicklung der Organsysteme und Denken). Unser Denken ist das Erbe unserer Begegnung mit den göttlichen Hierarchien. Die Hierarchien wurden früher in der christlichen Tradition die Intelligenzen genannt. Die Beziehung der Hierarchien untereinander, ja sogar die ganze Schöpfung in ihrer Bezogenheit auf Gott, ist intelligent. Denn wenn man jedes Teil zum Ganzen stimmig zuordnen kann, ist man intelligent. Die Fähigkeit, das Teil seinem Ursprung zuzuordnen, es quasi in ein Verhältnis zum Ganzen zu setzen, nennen wir auch Urteilsfähigkeit. Denken ist sich auf einen Kontext beziehendes, stimmiges, intelligentes Verhalten. Diese Fähigkeit zu denken bringen wir der Veranlagung nach als vorgeburtliches Erbe aus der geistigen Welt mit und sie prägt unser Haupt, das ja als das Denk- und Reflexionsorgan im nächsten Erdenleben dient.

  • Rhythmisches System und Weltenmitternacht

Das rhythmische System, die Mitte, die keinen Stillstand kennt, wo wir reiner Prozess sind, wo es nur winzig kleine Momente der Ruhe gibt zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Herzschlägen, wo wir ständig zwischen Tod und Geburt als Ur-Polarität hin- und herpendeln, zwischen jeder Art von Polarität – dieses rhythmische System bildet die Weltenmitternacht ab (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Zur funktionellen Dreigliederung des menschlichen Organismus). Denn dort wird das, was wir getan haben im letzten Erdenleben und das, was wir planen fürs nächste Erdenleben, aufeinander bezogen. Wollen und Denken werden miteinander und auch mit dem Gefühl verbunden, insofern, als der Mensch dort ein tiefes stimmiges Vorgefühl des Kommenden bekommt und das künftige Erdenleben nach Kopf- und Gliedmaßen-Veranlagung, nach Denken und Wollen, nach intelligentem und willentlichem Vermögen differenziert und geordnet wird. Wir können auch sagen, in der Weltenmitternacht sind wir ganz zur Mitte geworden. Die Polarität zwischen Erinnerung an den Kosmos – Denken, Nerven, Sinne – und der Sehnsucht nach der Erde – Wille, Gliedmaßen, Stoffwechsel – gestaltet sich erst wieder aus, wenn wir unseren Leib bilden für das nächste Erdenleben.

Vgl. „Vorgeburtliche Disposition zu Angststörungen“, Vortrag auf der Schulärztetagung 2013