Entwicklung der Organsysteme und Denken

Mit Blick auf die kindliche Entwicklung ist es interessant zu sehen, wie in den Jahren zwischen Geburt und Mündigkeit im Zuge der kindlichen Entwicklung ein Organsystem nach dem anderen heranreift (vgl. Erziehung: Entwicklungsphasen und Pädagogik). Dabei herrscht eine wundervolle Übereinstimmung zwischen diesen Organsystemen und dem sich entsprechend entwickelnden denkenden Bewusstsein.

  • Nervensinnessystem – 1. Jahrsiebt

Das erste Organsystem, das bereits in den ersten neun Lebensjahren seine Grundausreifung und damit nahezu seine Erwachsenenfunktion erreicht, ist das Nervensystem mit den Sinnesorganen, wobei letztere am frühesten voll funktionstüchtig werden. Die das Nervensystem und die Sinnesorgane aufbauenden Kräfte werden entsprechend als erste frei für die denkende Tätigkeit. Daher hat das kindliche Denken einen stark bildlichen Charakter. Alles, was die Sinne erleben, wird lebhaft vorgestellt und phantasiereich ausgestaltet. Das phantasievolle Übersprudeln des beginnenden kindlichen Denkens hängt mit den Wachstumstendenzen zusammen, die den kindlichen Organismus bestimmen. Diese Periode endet etwa mit dem 9., 10. Lebensjahr. Dann haben die Kinder ihr bildhaftes, an den Sinneserfahrungen orientiertes Denken zur vollen Reife gebracht und verfügen jetzt meist auch über eine ausgezeichnete Merkfähigkeit.

Das entspricht der ausdifferenzierten Organstruktur der Sinnes- und Nervenorgane, in denen ab diesem Stadium kein Wachstum mehr, sondern nur noch Regeneration geschieht. Es finden keine weiteren Zellteilungen mehr statt, jegliche Wachstumstätigkeit hat aufgehört. Das regenerierende Bewahren der bis dahin ausgebildeten Form steht ab da im Vordergrund. Das gibt auch dem kindlichen Denken dieses Alters den Charakter. Was Mutter oder Vater bzw. der Lehrer gesagt haben, hat Gültigkeit und wird vom Kind zunächst so festgehalten und bewahrt.

  • Herzkreislauf-System und Atmung – 2. Jahrsiebt

Zwischen dem 12. und 16. Lebensjahr steht das Heranreifen von Herz-Kreislaufsystem und Atmung im Vordergrund. Diese erlangen jetzt ihre Funktionsreife und damit auch die für das Erwachsenenleben typische Frequenz ihrer Rhythmen: etwa 20 Atemzüge und 80 Pulsschläge pro Minute in Ruhelage. Diese Organe brauchen bis zum 16. Lebensjahr, um annähernd ihre Erwachsenenfunktion zu erreichen. Daher ist es sportmedizinisch nicht zu vertreten, Jugendliche vor dem 16. Lebensjahr hart für den Leistungssport trainieren zu lassen. Da diese Organsysteme vor diesem Zeitpunkt noch nicht genügend herangereift und stabilisiert sind, können Schäden am Herzen und am Bewegungsapparat entstehen, die das ganze folgende Leben belasten können.

Entsprechend der Entwicklung dieser rhythmisch tätigen Organe zeigt sich in diesen Jahren auch eine neue Qualität im Denken des Heranwachsenden: eine zunehmende Fähigkeit zur selbständigen Urteilsbildung. Nicht neue Gedanken sind hier das Entscheidende – der Bildgehalt des Denkens ist ja bereits entwickelt. Er kann zwar noch bereichert werden, das würde aber keine neue Qualität im Denken bewirken. Das Neue hängt vielmehr mit einer anderen Art des Umgangs mit den vorhandenen Gedanken zusammen, so wie dies bei der urteilenden Tätigkeit der Fall ist. Die Urteilsfähigkeit stellt eine neue Möglichkeit dar, Gedanken zu bewegen und gegeneinander abzuwägen (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen - Sprechen – Denken: Denken - Selbstbewusstsein - Geisterkenntnis).

Diese Tätigkeit des Abwägens entspricht dem Ein- und Ausatmen, dem rhythmischen Aufnehmen und Abgeben, indem man zunächst den einen Gedanken aufnimmt und prüft und ihn dann wieder vor sich hinstellt und dann dasselbe mit einem anderen tut. So wird im Abwägen zwischen unterschiedlichen Gedanken ein Urteil gebildet.

Wer Kinder dieses Alters beobachtet, wird auch bemerken, dass es sich bei dieser erwachenden Urteilsfähigkeit nicht um ein abstraktes Urteilsvermögen handelt, sondern in erster Linie um ästhetische Urteile: ob etwas schön oder hässlich, gut oder böse, gemein oder nicht gemein ist, ob Kinder in der Schule „doof“ oder „nett“ sind, ob die Lehrer etwas taugen oder nicht. Das ist das Feld, auf dem intensiv geurteilt wird. Das Mitschwingen von Gefühlen beim Bilden ästhetischer Urteile hängt mit dem Zusammenspiel mit Atmung und Kreilauf zusammen. Auch noch im Erwachsenenalter wirkt sich jede Gefühlsregung unmittelbar auf Atemtiefe und -frequenz oder auch auf die Blutzirkulation aus, indem wir erröten oder erblassen.

  • Gliedmaßen- und Stoffwechselsystem – 3. Jahrsiebt

Nach der Pubertät reifen die Gliedmaßen aus, die ihre endgültige Größe zwischen dem 18. und 22. Jahr erlangen, und mit ihnen auch der gesamte innere Stoffwechsel. In dieser Zeit werden die hormonelle Regulationsfähigkeit sowie die volle Funktionstüchtigkeit der Reproduktionsorgane erworben. Blickt man auf das sich jetzt auch weiterentwickelnde Denkvermögen des Jugendlichen, so fallen einem sofort zwei ganz neue Qualitäten ins Auge:

Auf der einen Seite der starke Wille, im Denken eine eigene Meinung zu bilden. Diese selbst erarbeitete Meinung oder Lebensansicht wird von dem Jugendlichen als neugewonnene innere Stabilität erlebt – wie ein seelisch-geistiges Rückgrat. Die Fähigkeit zur eigenen Wahrheitssuche und die Festigkeit und Sicherheit, die durch selbsterarbeitete Wahrheiten entsteht, gibt dem Gedankenleben gleichsam eine Art inneres Skelett.

Auf der anderen Seite erleben wir beim Jugendlichen den erwachenden Idealismus, die Fähigkeit, sich für dieses oder jenes im wahrsten Sinne des Wortes zu erwärmen und zu begeistern. Es wird erlebbar, wie die Kräfte, die die Stoffwechselorgane gebildet haben, nun für das Denken mehr und mehr zur Verfügung stehen und hier nun ebenfalls die Brennwärme liefern.

Mit den beiden genannten Qualitäten verbunden keimt etwas im menschlichen Denken auf, was man mit individueller Verantwortungs- und Entschlussfähigkeit bezeichnen kann.

Daher sollten Jugendliche erst dann für mündig erklären werden, wenn sie ausgewachsen sind, was im Durchschnitt mit dem 21. Lebensjahr der Fall ist. Erst wenn in seinem Denken die volle Kraft der Persönlichkeit wirksam ist, kann ein junger Mensch die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen. Und das ist eben erst mit dem Ausgewachsen-Sein des ganzen Organismus der Fall und nicht schon mit der Reifung des Nervensystems und der Sinnesorgane.

Gedanken entstammen dem ganzen Körper

An dieser Stelle sei gesagt, dass es eine irrige Vorstellung ist zu meinen, das Gehirn produziere Gedanken. Der ganze Organismus kann, wenn er seine Wachstumskräfte entlässt, gleichsam Gedanken „produzieren“ und weisheitsvolle Strukturen zur Verfügung stellen. Das Gehirn ist jedoch dasjenige Organ, an dem diese freiwerdenden Wachstumskräfte reflektiert und damit zum Bewusstsein gebracht werden können. Das Nervensystem dient also nur dem Bewusstwerden der Gedanken, nicht aber ihrer Produktion (vgl. Gedankenkraft: Sinnliches Gehirn und übersinnliche Gedanken).

Es wäre reizvoll zu zeigen, wie viele Erfahrungen aus dem Bereich der Neurologie diese Ansicht unterstützen und sicherstellen würden, wenn man sie nur in Erwägung zöge. Auch die große Plastizität und Übernahmefähigkeit der Großhirnrindenbezirke für neue Funktionen gehören in diesen Bereich und können dadurch verstanden werden.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart