Die Natur des Denkens in Erkenntnis und Erfahrung
Welche Rolle spielt das Denken für die Erlangung geisteswissenschaftlicher Erkenntnisse?
Worauf basiert dieses umfassende Denkvermögen?
Denken als ein notwendiges Werkzeug
Rudolf Steiner und Ita Wegman berufen sich in ihrem gemeinsamen Grundlagenwerk Anthroposophischer Medizin „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst…“ auf die Natur des Denkens selbst. Denn sowohl in den exakten Naturwissenschaften als auch in jedem philosophischen und religiösen Bestreben wird das Denken als ein notwendiges Werkzeug vorausgesetzt. Ja mehr noch, würde man sich auf Wirklichkeit und Logik des Denkens nicht verlassen können, wäre überhaupt kein Erkennen möglich, geschweige denn das Vertrauen in die Ergebnisse der Forschung.1
In seiner Schrift „Die Schwelle der geistigen Welt“ bemerkt Rudolf Steiner dazu: „Die Seele hat ein natürliches Vertrauen zu dem Denken. Sie fühlt, daß sie alle Sicherheit im Leben verlieren müßte, wenn sie dieses Vertrauen nicht haben könnte. Das gesunde Seelenleben hört auf, wenn der Zweifel an dem Denken beginnt. Kann man über irgend etwas im Denken nicht ins klare kommen, so muß man den Trost haben können, daß die Klarheit sich ergeben würde, wenn man sich nur zur genügenden Kraft und Schärfe des Denkens aufraffen könnte. […] Diese Stimmung der Seele gegenüber dem Denken liegt allem Erkenntnisstreben der Menschheit zu Grunde.“2
Wegweisende Definition des Denkens
Um also überhaupt die Grenzen der Naturerkenntnis überwinden zu können, muss man sich auf die Natur des Denkens besinnen, mit dessen Hilfe
einerseits Sinneserfahrungen vorgestellt – und damit gedacht – werden können,
- welches sich andererseits von der Sinneserfahrung loslösen kann und dann für rein geistige Betätigung zur Verfügung steht.
So steht im Zentrum von Kapitel 1 des genannten Grundlagenwerkes eine für Medizin und Psychosomatik wegweisende Definition des Denkens als Fundament für alles Weitere im Buch Ausgeführte. Das gewöhnliche Denken sei eine normalerweise unbewusst bleibende außerkörperliche Erfahrung: Es sei umgewandelte bzw. „verfeinerte“, nicht mehr im Lebenszusammenhang des Körpers tätige Wachstumskraft.3 Dieser für Steiner grundlegende Tatbestand ist das Fundament der dann im zweiten Teil von Kapitel 1 skizzierten spirituellen Anthropologie sowie dem zugehörigen Substanz-, Krankheits- und Gesundheitsbegriff.
Da dieser dort nur formelhaft knapp beschriebene Tatbestand zum Verständnis des Buches grundlegend ist, sei im Folgenden der Versuch gemacht, ihn anhand einiger Beispiele aus Forschung und Erfahrung zu konkretisieren.
Vertiefende Verständnishilfe von außerkörperlichen Erfahrungen
Mit Rudolf Steiners Aussage, dass das unbewusste Körperleben und das bewusste Gedankenleben ein und dasselbe sind, werden
- ‚ewiges’ Gedankenleben im leibfrei-außerkörperlichen Bereich
- und vergänglich-zeitgebundenes Körperleben
konkret aufeinander bezogen: Denken wird als Brücke zwischen Geist und Materie verstanden (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen).
Die Autoren schildern diesen Tatbestand aus geisteswissenschaftlicher Forschung Jahrzehnte, bevor empirische Schilderungen außerkörperlicher Erfahrungen im Sinne der ‚out-of-body experience‘ (OBE) bekannt wurden. Dieser Tatbestand kann wesentlich zum Verständnis von OBEs beitragen, wenn einem die Erfahrungsberichte der Betroffenen, bestimmte Glaubensvorstellungen oder der naturwissenschaftliche Erklärungsversuch als neuropathologisches Phänomen nicht ausreichen. Denn die naturwissenschaftlich basierte Schulmedizin und Psychologie geht hypothetisch davon aus, dass hinter außerkörperlichen Erfahrungen lediglich abnorme hirnphysiologische Prozesse stehen, wie sie unter Medikamenteneinfluss und Sauerstoffmangel auftreten und zu Halluzinationen etc. führen können.
Für den anthroposophischen Arzt sind sie hingegen natürliche Exkarnationserfahrungen, die durch eine umfassende Lockerung des Ätherleibes aus dem physischen Leib zustande kommen. Was van Lommel und Knüll „endloses“ bzw. „fundamentales Bewusstsein“ nennen, beschreibt Rudolf Steiner als ein Erwachen in der ätherischen Welt. Tod wäre demnach ein Erwachen in der ätherischen Welt – im ‚ewigen Leben’. Was die meisten Menschen, die bewusst in Todesnähe waren, aus dieser Erfahrung mit ins Leben zurückbringen, ist die innere Gewissheit, dass das Leben nach dem Tod weitergeht und dass sich jeder Tag des Erdenlebens auf dem Entwicklungsweg hin zu mehr Menschlichkeit lohnt.
Berichte von außerkörperlichen Persistenzerfahrungen
Sehr erfreulich ist, dass seit den Berichten von Raymond A. Moody, George G. Ritchie und anderen weltweit bekannten Autoren auf diesem Gebiet sich auch namhafte Schulmediziner wie der niederländische Kardiologe Pim van Lommel und der deutsche Allgemeinmediziner Wolfgang Knüll, der selber eine Nahtoderfahrung auf der Intensivstation erlebt hatte, des Themas angenommen haben. Sie setzen sich auf Kongressen dafür ein, sensibler mit ‚bewusstlosen’ Menschen und solchen in Todesnähe umzugehen, da sie definitiv nicht ohne Bewusstsein sind.4
Vielmehr berichten diese Menschen nach der Rückkehr zum normalen Bewusstsein erstaunlich übereinstimmend von ihren Persistenzerfahrungen außerkörperlicher Art und den damit verbundenen Begegnungen mit lieben Verstorbenen und Wesen höherer Art in einer Welt von Licht, Liebe und Wärme, die in krassem Gegensatz zu den Szenarien von Krieg und Streit auf der Erde steht. Interessant ist dabei die kaum reflektierte Tatsache, dass diese Schilderungen zeigen, dass in diesem Ausnahmezustand die Sinneserfahrung zugleich eine Denkerfahrung ist. D.h. die Betroffenen ‚sehen’ ihren Leib von oben und ‚wissen’ zugleich davon und nehmen noch vieles andere gleichzeitig wahr. Meist tut sich auch eine umfassende Panorama-Erfahrung auf, oft verbunden mit einer Lebensüberschau, in der auch längst Vergessenes wieder gegenwärtig wird.
Erkenntniswissenschaftlicher Ansatz von OBEs
Steiner und Wegman beschreiben diese intensive außerkörperliche Erfahrung, in der Schauen und Denken eins werden, im Kapitel 1 so: „Was man jetzt in der verstärkten Denkkraft wahrnimmt, ist durchaus nicht blass und schattenhaft; es ist vollinhaltlich, konkret-bildhaft; es ist von einer viel intensiveren Wirklichkeit als der Inhalt der Sinneseindrücke. Es geht dem Menschen eine neue Welt auf, indem er auf die angegebene Art die Kraft seiner Wahrnehmungsfähigkeit erweitert hat. Indem der Mensch in dieser Welt wahrnehmen lernt, wie er früher nur innerhalb der sinnlichen Welt wahrnehmen konnte, wird ihm klar, dass alle Naturgesetze, die er vorher gekannt hatte, nur in der physischen Welt gelten; und dass das Wesen der Welt, die er jetzt betreten hat, darin besteht, dass ihre Gesetze andere, ja die entgegengesetzten, gegenüber denen der physischen Welt sind.“5
„Hier handelt es sich um das wirkliche Anschauen – um das geistige Wahrnehmen – eines Wesenhaften, das im Menschen wie in allem Lebendigen ebenso vorhanden ist wie der physische Leib.“6
Vgl. „Einleitung zu Band 15, Schriften zur Anthroposophischen Medizin, Kritische Edition der Schriften Rudolf Steiners“, frommann-holzboog Verlag, Stuttgart 20257
- Vgl. hierzu Thomas Nagel, der in seinem Buch „Geist und Kosmos“ gezeigt hat, dass der Versuch, das Denken materialistisch zu erklären einen performativen Selbstwiderspruch enthält, da dieser Versuch „schließlich in etwas seinen Boden finden muss, das für sich genommen als gültig verstanden wird“. Nagel (2013).
- Rudolf Steiner, Die Schwelle der geistigen Welt, GA 17, S.7f.
- Rudolf Steiner Ita Wegman, Grundlegendes für einer Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen, GA 27, S. 6.
- Vgl. van Lommel (2001; 2023); Knüll (2023).
- Siehe FN 3, S. 4.
- Siehe FN 3, S. 7.
- In Band 15 der SKA findet sich auch das umfangreiche Literatur- und Referenzverzeichnis. Wer den Inhalt weiter vertiefen möchte, kann sich dort darüber informieren.