Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen

Inwiefern kann das Denken die Kluft zwischen der Sinneswelt und dem Geistigen überbrücken?

Die Kraft gerichteter Aufmerksamkeit

John Eccles hat in seinem Buch „Wie das Selbst sein Gehirn steuert“ 1 herausgearbeitet, in wie hohem Maß durch die Kraft der gerichteten Aufmerksamkeit, die das Ich den Dingen und Vorgängen mithilfe des bewussten Denkens zuwendet, das Gehirn erst zu seinen Leistungen angeregt wird. Die lebenslange Plastizität des menschlichen Gehirns, das heißt die Möglichkeit, das Gehirn in seinen Feinstrukturen bis ins höchste Alter verändern zu können und immer wieder neue Vernetzungsstrukturen zu veranlagen und zu benützen, ist eine Folge dieser nur beim Menschen vorhandenen Denkfähigkeit und der vom Denken gelenkten und kontrollierten Lernprozesse und Handlungsabläufe.

Dem menschlichen Denken sind alle Gesetzmäßigkeiten zugänglich, die den Dingen, der Natur und den Naturwesen, aber auch der vom Menschen geschaffenen Technik zugrunde liegen. Z.B. zeigt sich das Gesetz des freien Falls an jedem Körper, der fällt – es beherrscht ihn, ist in ihm „drin“, an ihm wirksam. Der Mensch kann dieses Gesetz denken, auch wenn es gerade bei ihm nicht wirksam bzw. in Aktion ist. Denn in der menschlichen Denkfähigkeit ist die gesamte Weisheit der Natur enthalten, die Gesetze, nach denen Minerale sich bilden und zerfallen, nach denen Erde und Kosmos verbunden sind, nach denen sich die Verinnerlichung äußerer Eindrücke vollzieht. All das kann man sich durch bewusste Seelentätigkeit zugänglich machen.

Schöpferisch durch außerkörperliche Kompetenz

Der Mensch kann diese Weisheit in abstrakter, das heißt von dem „Drin-Sein“ in den Naturvorgängen befreiter Form als Denken betätigen. Die außerkörperlich wirksame Natur des Denkens (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft) gibt uns die Möglichkeit, in freier Weise die sonst zwingend wirksamen Naturgesetze zu handhaben, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie auch neu zu kombinieren und damit originell und schöpferisch tätig zu sein. Ja mehr noch: Sie ermöglicht dem Menschen ein selbstbewusstes, rein geistiges Leben, die Erfahrung, ein selbstbestimmt lebender „freier Geist“ zu sein.

So gesehen erweist sich das Denken tatsächlich als Brücke „über den Strom“, der rein Geistiges von natürlichen, den Sinnen wahrnehmbaren Dingen trennt (vgl. Gedankenkraft: Gedanken als Brücke zur Geisterfahrung). Denn die allem materiellen Dasein innewohnende Gesetzmäßigkeit kann im menschlichen Denken durch rein geistige Tätigkeit als Gesetz erkannt werden. Über das Denken, das Geistesleben des Menschen, haben wir Zugang zu der die Materie beherrschenden Weisheit. So ist es berechtigt, das Wort „Geist“ im engeren Sinne für den von der Wirksamkeit in den Naturerscheinungen losgelösten Menschengeist (vgl. Geist und geistiges Wesen: Geisterkenntnis und Freiheit) zu benutzen. Es ist aber auch gerechtfertigt, im weiteren Sinne vom Geist in der Natur zu sprechen.

Denken als übersinnliche geistige Realität begreifen

Damit ist der Weg frei, im Denken eine übersinnliche – eben nur dem Denken selbst zugängliche – geistige Realität zu sehen. Gedanken als Bilder, Imaginationen, und geistige Gesetze sind Zugänge zu übersinnlichen Wesen und Vorgängen, die sich im Denken ebenso darstellen lassen wie Sinnlich-Gegebenes.

Wird uns im Nachdenken über das Denken bewusst, dass wir im Denken die sinnliche Welt verlassen können und von zwei Seiten her Botschaften empfangen – von der sinnlichen und von der geistig wesenhaften Seite, so erleben wir die Denktätigkeit als Brücke zwischen den zwei Welten. Das Denkvermögen selbst ist übersinnlicher Natur, durchdringt und versteht aber auch die Naturgesetze und damit alles sinnlich gegebene Dasein. Wird das Denken in seiner geistigen Natur erlebt, können auch meditative Wege beschritten werden, auf denen es möglich wird, das dem Denken innewohnende rein Geistig-Wesenhafte zu erfassen (vgl. Denken: Zeitlich-überzeitliches Denkvermögen).

Der Gedanke des Ich kann hierbei richtungweisend sein. Denn bei ihm erleben wir genau, wie „dünn“ zunächst der bloße Gedanke des Ich ist gegenüber unserer komplexen sinnlichen Körpererfahrung. Durch Schulung unserer Aufmerksamkeit und unseres Denkvermögens können wir jedoch lernen, dessen leibfreie Natur zu erkennen und bewusst weiterzuentwickeln. Im Gedanken des Ich können wir die körperlose spirituelle Kompetenz unseres Wesens ebenso erfahren und verstehen lernen wie unsere naturgegebene körperliche Konstitution (vgl. Gottebenbildlichkeit des Menschen: Gottebenbildlichkeit des Ich).

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 3. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. John Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert. München 1996.