Das leiblich-religiöse Verhalten des Kindes

Was ist unter leiblich-religiösem Verhalten zu verstehen?

Kinder haben Religion

Goethe hat das berühmte Wort geprägt: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion." Wer wirklich wissend ist und ein künstlerisches Empfinden hat, der findet auch wie selbstverständlich Zugang zum Religiösen.

Kinder sind in dem Sinne weder Wissenschaftler noch Künstler – für sie gilt die Fortsetzung des Goethewortes: „Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion." Nur muss es beim Kind heißen: Es hat Religion. Dass das so ist, zeigen Kinder von Anfang an in ihrem ganzen Verhalten.

Im ersten Lebensjahr stehen das Gehenlernen und die Anpassung des Stoffwechsels an die Nahrung im Vordergrund – ausgehend von der am besten verträglichen Muttermilch über viele Zwischenstufen bis hin zur normalen Ernährung. Doch auch beim Sprechenlernen im zweiten Lebensjahr und dem mit dem bewussten „Ich"-Sagen beginnenden Denkenlernen bis in die ersten Schuljahre hinein ist offensichtlich, dass die Stoffwechsel-Gliedmaßen-Tätigkeit im Zentrum der körperlichen Reifung steht.

Kinder unter drei Jahren sind reine Willenswesen: Sie stecken alles in den Mund, was sie in die Finger bekommen, schlafen viel, auch noch während des Tages, und sind, wenn man sie lässt, am liebsten in Bewegung. Sie ahmen nach, was sie in ihrer Umgebung wahrnehmen und versuchen auch alles um sich her in Bewegung zu bringen: Sie ziehen an Tischdecken, drehen an Knöpfen und würden liebend gerne noch vieles machen, was den Erwachsenen gar nicht passt. Die Freude, etwas in den Mund zu stecken, etwas anfassen und untersuchen zu dürfen, sich auf etwas zuzubewegen, zeugt von einem tief eingeborenen „religiösen" Verhältnis zu ihrer Umgebung und steht in engem Zusammenhang mit der Entwicklung des Stoffwechsel-Gliedmaßen-Systems und dadurch auch mit der Willensentwicklung. Rudolf Steiner sagt, das Kind verhält sich im Vorschulalter leiblich-religiös .

Religiosität in vollendeter Form

Um gehen, sprechen und denken lernen zu können, brauchen Kinder das Vorbild der Erwachsenen. Ein Kind ahmt oft so tiefgreifend nach, dass es sogar zu hinken beginnt, wenn der geliebte Großvater hinkt. Nur im Kindesalter können wir eine solch vollständige Hingabe an die Umgebung, an die Nahrung, an das Spiel beobachten. Was der Erwachsene später seelisch-geistig an religiöser Hingabe aufzubringen versucht, indem er sich bemüht, sich nach bestimmten Grundsätzen für die Lebensgestaltung zu richten („Nachahmen des göttlichen Willens"), hat nicht annähernd diese Intensität. Religiosität in dieser vollendeten Form können wir also nur auf der leiblichen Ebene an Kindern beobachten.

Man kann sogar sagen: Wenn es kein Evangelium gäbe und vom Christentum nichts Schriftliches überliefert wäre, so könnte uns die Entwicklung der Kinder in den ersten drei Lebensjahren vollumfänglich lehren, was Menschwerdung im höchsten Sinne des Wortes bedeutet:

Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997

  1. Neues Testament, Johannes 14, 6.