Die Schwelle zur geistigen Welt
Was kann man unter Schwelle zur geistigen Welt verstehen?
Wie kann man sich ihrer bewusst werden?
Dreifaches Schwellenerlebnis
Die Schwelle zur geistigen Welt1 zeigt sich schon für das gewöhnliche, nicht unmittelbar hellsehende Bewusstsein in dreifacher Weise.
Sie geht durch jedes Menschenherz. Hier trifft die seelisch-geistige Innenwelt der Gedanken, Gefühle und Willensimpulse zusammen mit dem, was durch die Sinne von der Außenwelt und dem mit ihr verbundenen physischen Leib bewusst wird.
Dieselbe Schwelle ist jedoch auch bei jeder Erkenntnisbemühung erlebbar, wenn wir bestrebt sind, Wahrnehmung und Begriff, das heißt ein sinnlich Gegebenes und ein übersinnlich Gegebenes, wahrheitsgemäß aufeinander zu beziehen.
Beim zeitlichen Werden und Vergehen des Menschen durch Geburt und Tod, seinem Erscheinen und Verschwinden im Reich der Sichtbarkeit, begegnen wir wiederum dieser Schwelle.
Auch im medizinischen Bereich begegnet uns diese dreifache Schwellensituation täglich – selbst wenn die Betroffenen sich dessen nur wenig oder gar nicht bewusst sind.
Schwellenerlebnis als zentrale Ich-Erfahrung
Welche Kraft ist es aber, die uns an die Schwelle führt und uns diese Schwelle mehr oder weniger bewusst überschreiten lässt?
Es ist das menschliche Wesen selbst, der Kern der Persönlichkeit, unsere Ich-Natur (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Das Ich verbindet Wahrnehmung und Begriff im Wahrheitserleben. Das Ich ist es auch, das Menschen wesenhaft verbindet und in der Gewissensstimme des Herzens seiner höheren Natur folgt. Und es ist das Ich, das sich mit seinen Wesensgliedern2 umkleidet oder sich von ihnen löst beim Geborenwerden und Sterben. So gehört das Schwellenerlebnis als solches zu den ganz zentralen Ich-Erfahrungen des Menschen, auch wenn es ungezählte Menschen gibt, die sich dieser Tatsache nicht bewusst sind.
In früheren Zeiten wussten nur wenige um dieses Schwellengeheimnis. Es war den Eingeweihten in den Mysterienschulen und Tempeleinrichtungen vorbehalten (vgl. Mysterien und Initiation: Über die alten Mysterien). Das war notwendig, weil zum bewussten Erleben und Ertragen-Können des Schwellenübergangs eine strenge Schulung und Vorbereitung gehört. Denn an der Schwelle wird offenbar, was den Men¬schen noch trennt vom bewussten Erfassen seiner wahren We¬senheit, seines höheren Selbst. Jede Form von Egoismus – von der klein¬sten Lüge über diverse Spielarten der Lieblosigkeit bis hin zu Willens¬impulsen, über deren Ursprung und Ziel nicht genügend Klarheit besteht – trennt den Menschen von seinem göttlichen Ursprung, der seiner wahren Wesenheit entspricht. Er stürzt ihn in den Abgrund, der sich zwischen der göttlichen und der irdischen Welt auftut, in die er sich als sich ent-wickelndes Wesen hineingestellt hat.
Allen zugängliches Eingeweihten-Wissen
Erst in unserem Jahrhundert ist das Wissen der Eingeweihten aus alter und neuer Zeit der ganzen Menschheit zugänglich (vgl. Mysterien und Initiation: Mysterien des Willens).3 Erst in unserem Jahrhundert ist der Mensch in seiner Entwicklung so weit gekommen, dass er die Trennung zwischen der geistigen und der Sinneswelt in vollem Ausmaß fühlen kann – er bringt sie weltweit zur Darstellung in der vorwiegend materialistisch-technischen Kultur. Der heutige Mensch erlebt keine Geistgewissheit mehr, die ihn instinktiv trägt. Auch der Kirchenglaube wird zunehmend bewusst hinterfragt.
Es ist also eine Notwendigkeit unserer Zeit, diese menschheitliche Situation des am Abgrund-Stehens zwischen der Sinnes- und der Geisteswelt zu erkennen und das unbewusste Schwellenerleben in ein tätiges, bewusstes Erleben umzuwandeln.
Das gilt ganz besonders für die Medizin, da sie, wie keine andere Wissenschaft sonst, täglich mit allen drei Schwellenaspekten der menschlichen Existenz umzugehen hat. Sie kann nur dann die physischen, seelischen und geistigen Heilmittel menschenwürdig einsetzen, wenn es aus umfassender Einsicht geschieht.
Vgl. 1. Kapitel „Medizin an der Schwelle“, Verlag am Goetheanum, Dornach 1993
- Rudolf Steiner, Die Schwelle der geistigen Welt. GA 17.;
Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10. - Vergl. Rudolf Steiner, Theosophie. GA 9.
- Siehe zum Beispiel Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriß. GA 13.