Das Ich als Kern der Persönlichkeit

Die Ich-Organisation ist keineswegs identisch mit dem Ich, dem Persönlichkeitskern. Die vier Wesensglieder, zu denen die Ich-Organisation gehört, werden in jedem Erdenleben für die jeweils zu bewältigenden Aufgaben neu konzipiert, allerdings unter dem Fortwirken von Taten und Ereignissen aus früheren Erdenleben (vgl. Schicksal und Karma: Konsequenzen von Handlungen und Lebensgewohnheiten für den weiteren Verlauf des Schicksals) und in Vorbereitung künftiger Erlebnisformen. Diese Wesensglieder dienen jeweils für ein Erdenleben als Instrumente des Ich, als seine Werkzeuge, Ausdrucksmöglichkeiten, Arbeitsbereiche. Sie sind als Wesensglieder Arbeitsorgane des Ich, sind jedoch nicht dieses Wesen selbst. Nirgendwo kann man das so gut beobachten wie bei schwer mehrfachbehinderten Menschen oder bei Menschen, die im Sterben liegen bzw. beim Sterbevorgang selbst.

Das körperlose Wesen

Der Frage nach dem menschlichen Wesen kann nicht weiter nachgegangen werden, ohne dass man sich einen Begriff von der körperlosen geistigen Welt bildet. Wer ein Nahtodeserlebnis hatte, sei es während einer Reanimationsmaßnahme, im schweren Schock oder durch eine gefährdende Drogenerfahrung, hat seine körperlose Existenz erlebt – er hat sich selbst als ein helles, leichtes und doch kraftvolles Gedankenwesen erfahren, das durch Gegenstände hindurchgehen kann und nicht mehr an den Raum gebunden ist. Wer so etwas noch nicht selbst erlebt hat, ist auf sein Denken angewiesen. Die Selbstbeobachtung zeigt, dass sich der Mensch im Denken als freies, leibunabhängiges, körperloses Wesen erfahren kann (vgl. Denken: Denken als Brücke zwischen der Sinneswelt und der Welt des Geistigen). Jeder Mensch kann im Denken den physischen Leib verlassen und sich im Ätherleib als Gedankenwesen erfassen und jeder kann auch Astralleib und Ich in ihrer rein geistigen Natur als „leibfreies“, d.h. außerkörperlich wirksames, von ihm selbst gelenktes Empfinden und Wollen erfahren.

Nach dem Tode erlebt sich der Mensch noch eine Zeit lang in diesen übersinnlichen Hüllen, die aus Gedanken, Gefühlen und Willensimpulsen bestehen. Im Laufe des nachtodlichen Lebens werden dann auch sie in einem Lebensrückblick „verarbeitet“ unter der schicksalsgerechten Beurteilung der Engelhierarchien – „im Angesicht der Gottheit“ (vgl. Sterben und Tod: Dreifacher Tod). Das Menschenwesen nimmt aus seinen Wesensgliedern alles dasjenige als eine Art „Extrakt“ mit, womit es sich während des Erdenlebens über Gedanken, Gefühl und Willen ganz identifizieren konnte und was dadurch zu seinem Eigentum geworden ist. Die Identifikationskraft des Ich gehört zum Geheimnisvollsten der menschlichen Ich-Natur (vgl. Identität und Ich: Identifikation und Schicksal). Auf diese Weise mit dem „Wesentlichsten“ ausgestattet, betritt das Menschenwesen im weiteren Leben nach dem Tode als rein geistiges Wesen die geistige Welt und erlebt dort die schon in ältesten Mysterientraditionen beschriebene „Mitternachtsstunde des Daseins“, bevor die neue Verkörperung vorbereitet wird.1

Wesenskern und Person

Wenn wir den Menschen in dieser Weise betrachten, müssen wir differenzieren zwischen seinem ewigen Wesenskern und der jeweils während eines Erdenlebens in Erscheinung tretenden Person. „Personare“ heißt ja dem Wortsinn nach „durchtönen“. Die Person ist Ausdruck davon, wie sich das ewige Menschen-Ich durch seine in jedem Erdenleben einmalige, spezifische Wesensgliederkonfiguration „hindurchzutönen“ und darzuleben versucht.

Unserem Alltagsblick erscheint ein Mensch umso begabter, je vollkommener er sich durch seinen Körper bzw. seine vier Wesensglieder darstellen kann, und als umso unbegabter, je weniger ihm dies gelingt. Das Menschen-Ich als Kern der Persönlichkeit ist weder behindert noch begabt, weder krank noch gesund. Es leuchtet vielmehr deutlicher oder schwächer durch die physischen und seelischen Behinderung und Begabung der Wesensgliederkonfiguration hindurch. Es arbeitet an diesem Körper, stößt an die Behinderung und wird sich dadurch seiner selbst zunehmend bewusst (vgl. Begabung und Behinderung: Das Ich im Kontext von Behinderung und Begabung).

Das Ich ist das Allgemein-Menschliche in jedem Menschen und damit auch Träger aller menschlichen Eigenschaften, die sich jeder einzelne auf ganz individuelle Weise durch seine eigenen Wesensglieder bewusst machen und erarbeiten muss. Es geschieht dies im Verlauf der Inkarnationen durch eine Fülle von Lernprozessen. Wir alle tragen unser Menschentum als Ursprung und Ziel in uns, bedürfen jedoch schmerzhafter Entwicklungs- und Erfahrungsprozesse, um uns dieses Menschentums wirklich bewusst zu werden. Es gilt, die uns durch die Natur gegebene Entwicklungsmöglichkeit zum „vollendeten Menschsein“ zu erkennen. Dann haben wir die Aufgabe – ein scheinbarer Widerspruch in sich –, diese uns durch Geburten und Tode hindurch immer wieder neu mit Naturnotwendigkeit gegebene Entwicklungsmöglichkeit nochmals ganz aus eigenem Entschluss heraus zu „wollen“ und „anzunehmen“ und uns durch Übung und Arbeit zu autonomen Menschen zu entwickeln.

Vgl. „Begabungen und Behinderungen“, 12. Kapitel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004

  1. Rudolf Steiner, Die Geheimwissenschaft im Umriss, Kapitel „Schlaf und Tod“. GA 13, Dornach 1989;
    Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen. GA 141, Dornach 1983;
    Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.