Schwellenbewusstsein im sozialen Leben
Inwiefern wirken Schwellenerfahrungen als Augenöffner im sozialen Miteinander?
Was meint Rudolf Steiner mit „Gemeingesellschaft“?
Welche Herausforderungen für den einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft, sind damit verbunden?
Macht- und Führungsfragen rühren an den Lebensnerv vieler Menschen. Denn sie sind in ihrer Entwicklung direkt davon betroffen und haben Mühe, innerlich und/oder äußerlich damit zurechtzukommen. Da kann es helfen, sich klar zu machen, dass die alte Machtgesellschaft mit ihrer hierarchisch-pyramidalen Struktur und die heute so geliebte Demokratiegesellschaft Formen sind, zu deren Handhabung gewisse persönliche Fähigkeiten und gute Spielregeln genügt haben und genügen.
Freiwilliger Dienst in der Gemeingesellschaft als Herausforderung
Dies ändert sich bei dem Schritt zur bewussten Mitarbeit in einer Einrichtung oder einer Gemeinschaft von Menschen im Sinne der echten Dienstleistungsgesellschaft, von Rudolf Steiner Gemeingesellschaft genannt (vgl. Zusammenarbeit: Vergangene, gegenwärtige und zukünftige Gesellschaftsformen).1 Dieser Schritt ist nur möglich, wenn der Einzelne bereit ist, seinen Arbeitswillen freiwillig in den Dienst z.B. des Leitbildes der Einrichtung zu stellen. Dies aber bedarf immer wieder der Selbstüberwindung von der Art, wie sie geübt werden muss, wenn man das Betreten der „Schwelle zur geistigen Welt“ nicht scheut, und wenn man sich selber nicht nur dem Arbeitgeber, den Kollegen gegenüber, beziehungsweise seiner Arbeit verpflichtet fühlt, sondern auch gegenüber der geistigen Zielsetzung selber, der die Einrichtung dient.
Zugleich kann die Gefahr deutlich werden, die von einer derart idealistischen Einstellung ausgeht, wenn diese als moralischer Imperativ quasi von den Mitarbeitern als „selbstloser Einsatz“ erwartet oder gar gefordert wird. Dieser Gefahr kann nur dann wirksam begegnet werden, wenn das entscheidende Grundprinzip des Stehens an der Schwelle und damit auch der Führung im Sinne der Gemeingesellschaft beachtet wird: dass hier jeder einzelne nur für sich entscheiden kann. In Strukturen, die Machtausübung im Sinne des alten hierarchischen Systems ermöglichen, oder auch in der Demokratie, die Mitbestimmung ermöglicht, kann man vieles einrichten, organisieren und mit äußeren Mitteln durchsetzen.
Dieses geht mit der Führungsstruktur der Gemeingesellschaft nicht. Organisieren und „durchsetzen“ lässt sie sich „von außen“ nicht. Es steht einem solchen Unterfangen der Wille jedes einzelnen Mitarbeiters so lange entgegen, als dieser sich nicht individuell und freiwillig entschieden hat, im Sinne einer solchen Struktur mitzuarbeiten.
Daher bedeutet Führung und Mitarbeit im Sinne der Gemeingesellschaft nicht primär das Einrichten und Akzeptieren bestimmter Sozialstrukturen, sondern das Leben einer bestimmten Haltung der Arbeit und den Kollegen gegenüber.
Verwandlung an der Todesschwelle
Von Menschen, die dem Tode nahe waren oder schon einmal eine außerkörperliche Erfahrung gemacht haben, wird berichtet, dass sie sehr häufig als Verwandelte ins Leben zurückkehren. Verwandelt in dem Sinne, dass sie von nun an jeden Lebensaugenblick als Kostbarkeit empfinden können, dass sie ganz andere Wertungen und Sinngebungen vornehmen können, was Menschenbegegnungen, Ziele und Aufgabenstellungen des Lebens betrifft (vgl. Ethische Fragen: An der Todesschwelle). Sie können mit einem Mal von sich absehen und mit größtem Interesse auf andere hinblicken. Sie haben einen Eindruck von dem gewonnen, was jenseits der Todesschwelle liegt und können im Lichte dieser Erfahrung das Leben und seine Sinnhaftigkeit würdigen.
Spannend ist folgendes Gedankenexperiment, bei dem man sich fragt:
Wie würde ich den heutigen Tag durchleben, wenn ich schon gestorben wäre und noch einmal für diesen Tag in das Leben zurückkehren dürfte?
Worauf würde ich achten, was wäre mir wesentlich, was würde ich noch in Ordnung bringen?
Wer das ernsthaft tut, wird sofort bemerken, wie sich Perspektiven und Gewichtungen ändern gegenüber dem, wie man zuvor ganz selbstverständlich gelebt und empfunden hat.
Es fängt bei jedem Einzelnen an
So fängt die Arbeit an der zukunftsorientierten Verwirklichung der Gemeingesellschaft ganz im Stillen bei jedem Einzelnen an, der die Notwendigkeit einer solchen Sozialstruktur eingesehen hat und an ihrer Verwirklichung mitarbeiten möchte. Unabhängig von äußerer Stellung und äußerem Rang, unabhängig von der aktuell herrschenden Sozial- bzw. Führungsstruktur in einer Einrichtung, kann man sich im Sinne der Gemeingesellschaft verhalten und wird aufgrund dieses Verhaltens einen heilsamen Einfluss auf seine soziale Umgebung ausüben.
Sogar die globalen Probleme und Konflikte, von denen die Menschheit heute betroffen ist und an denen man angesichts der Geschwindigkeit, mit der bestimmte negative Entwicklungen ökologischer und wirtschaftlicher Art vonstattengehen, verzweifeln könnte, werden auf unerwartete Weise und schnell zu lösen sein, wenn eine genügend große Anzahl von Menschen beginnt, das soziale Leben aus innerer Einsicht und Antrieb heraus im Sinne der Gemeingesellschaft zu gestalten.
Menschen, die sich dazu entschließen, arbeiten mit an dem heute so dringend notwendigen kulturellen Wandel, die ganz auf den Egoismus des Einzelnen gebauten gesellschaftlichen Werte durch solche zu ersetzen, die die Voraussetzungen schaffen können für eine Kultur der Mitmenschlichkeit, der Brüderlichkeit und der Liebe zur Erde mit ihren Naturreichen und Entwicklungsbedingungen.
Sie entwickeln eine unternehmerische Gesinnung nicht nur für ihr persönliches und berufliches Leben (vgl. Zusammenarbeit: Orientierung am gemeinsamen Ziel), sondern für das Unternehmen Menschheitsentwicklung im einundzwanzigsten Jahrhundert.2
Vgl. 18. Kapitel von „Gesundheit durch Erziehung“, Persephone, Kongressband 2006, Verlag am Goetheanum, derzeit vergriffen
- Rudol Steiner, Soziale Zukunft. GA 332a, Vortrag vom 29.10.1919.
- Siehe auch: M. Glöckler, Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung. Johannes Mayer Verlag, Stuttgart 2001.