Problem der Vernetztheit der Sinne

Warum forschte Rudolf Steiner bis zuletzt an den Sinnen?

Womit hängen die Schwierigkeiten, die Sinne den entsprechenden Erfahrungsfeldern zuzuordnen, zusammen?

Was sagt die anthroposophische Sinneslehre diesbezüglich?

Komplexe Sinneslehre als Herausforderung

Die Sinnesfelder werden fast alle zehn Jahre etwas anders benannt und beschrieben. Auch die heutige Physiologie beschränkt sich längst nicht mehr auf fünf Sinne: Man spricht von einem Kraftsinn, einem Lagesinn – alle möglichen Sinne werden wie „erfunden“ – was mit der hochgradigen Vernetzung der Sinnesfelder zusammenhängt. Das kann helfen, Rudolf Steiner besser zu verstehen:

  • Er sagte zu Anfang seiner geisteswissenschaftlichen Forschungen zu den Sinnen, die Haut wäre eine ganz peripher gelegene Sinnessphäre, ein riesengroßes Sinnesorgan, und deshalb wäre der Tastsinn mit allen anderen Sinnen vernetzt.

  • Später betonte er, es sei wichtig, dass wir in der anthroposophischen Sinneslehre die eigentlichen spezifischen zwölf Sinnesfelder klar zu bestimmen und zu unterscheiden lernen: Denn sie stellen unterschiedliche Erfahrungsfelder dar, die eng mit dem Makrokosmos und dem Tierkreis zusammenhängen (vgl. Natur und Kosmos: Lebensvorgänge und kosmische Rhythmen).

Und weil es auch für Rudolf Steiner nicht einfach war, diese Zusammenhänge erkenntnismäßig zu durchdringen, hat er bis zuletzt an der Sinneslehre gearbeitet. Er machte z.B. drei verschiedene Anläufe, die Sinne dem Tierkreis zuzuordnen: einmal unter dem Aspekt von Tag und Nacht, dann wieder unter dem Aspekt von Makrokosmos und Mikrokosmos. In seinem Notizbuch findet man Stellen, wo er einen Sinn durchstrich, einen anderen drüberschrieb. Das zeigt, wie er sich dem Thema immer wieder unter unterschiedlichen Aspekten näherte.

Zusammenarbeit der Sinne

Steiner erkannte auch, dass es keine Sinneserfahrung gibt, bei der nicht (vgl. Sinne(spflege): Allgemeines zum Thema Sinne) mehrere Sinne zusammenwirken. Denn um ein Berührungserlebnis richtig interpretieren zu können, muss man schon bei den feinsten Bewegungen zusätzlich zum Tastsinn den Bewegungssinn, den Lebenssinn und den Gleichgewichtssinn betätigen. Laut Rudolf Steiner entspreche es dem Wesen des Urteilens, Erlebnisse immer durch das Zusammenspiel von mehreren Sinneserfahrungen, die sich gegenseitig erklären, zu beurteilen (vgl. Denken: Entwicklung der Organsysteme und Denken) – nur dass dieser Vorgang im Falle der Sinneswahrnehmung weitgehend unbewusst und so schnell abläuft, dass man sich dessen normalerweise nicht bewusst ist.

Die Zusammenarbeit aller Sinne zeigt sich z.B. auch, wenn wir stolpern: Da arbeiten Gleichgewichtssinn, Bewegungssinn, Lebenssinn und Tastsinn unwillkürlich zusammen. Dass man nur ganz selten hinfällt, wenn man stolpert, liegt auch daran, dass im Kleinhirn das Stolpern bereits wahrgenommen wird und die Flucht-, Regulations- und Kompensationsmöglichkeiten der unteren Sinne greifen, bevor man überhaupt merkt, dass man gestolpert ist. Das ist die Gnade des Unbewussten. Es ist unser Glück, dass die Reize im unbewussten Kleinhirn landen und nicht an der Hirnrinde, wo wir erst nachdenken müssten und erst viel zu spät reagieren würden! Nein, hier spüren wir unmittelbar, dass das Leben bedroht ist: Der Gleichgewichtssinn sagt der Muskulatur, wie sie gegensteuern muss, damit man nicht stürzt, sondern sich wieder fängt. Eine fantastische überaus intelligente Kooperation (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Gleichgewichtssinn)!

Kompensation einzelner Sinne

Wenn andererseits Bereiche z.B. des Tastsinnes ausfallen oder wenn das Bogengangsystem krank ist oder zerstört wird durch einen Unfall bzw. wenn Gleichgewichtssinn oder Tastsinn geschädigt sind, dann übernehmen Auge und Ohr die entscheidenden Funktionen der ausgefallenen Sinne.

  • Das Ohr kann über das Richtungs- und Entfernungshören die Gleichgewichtsfunktion übernehmen und feststellen, ob sich etwas hinter einem befindet.

  • Ähnlich kann das stereotaktische Sehen genützt werden. Räumliches Sehen wird ja gelernt, da hilft der Tastsinn dem Auge und das Auge dem Tastsinn.

Eine gar nicht so einfache Gleichgewichtsübung aus der Eurythmie ist das U mit Gegenbewegung: Während ich die Arme parallel in der U-Geste nach unten führe, gehe ich zugleich langsam auf die Zehenspitzen: Während ich mich mit den Füßen immer höher und höher stemme, führe ich das U mit den Armen immer mehr in die Tiefe. Dann senke ich mein Gewicht langsam auf die Fersen, während die Arme parallel nach oben wandern. Mit offenen Augen kann das fast jeder ohne zu wackeln ausführen. Mit geschlossenen Augen kann man erleben, in wie hohem Maß das Sehen den Gleichgewichtssinn ersetzt, kompensiert und ergänzt. Denn mit geschlossenen Augen kann diese Übung nur ausführen, wer über einen gesund entwickelten Gleichgewichtssinn verfügt.

Sinne als Erlebnisfelder erkennen

Einen anderen Blick auf die Komplexität des Themas Sinne gewinnen wir, wenn wir uns die Frage stellen, welche Gebiete des Daseins uns die einzelnen Sinne erschließen sollen oder wollen. Denn wir leben mit unserem Bewusstsein, mit unserem Denken, Fühlen und Wollen, dort, wofür wir einen Sinn (entwickelt) haben. Und wofür wir keinen Sinn haben, das erschließt sich uns auch nicht als Erlebnis (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung). Und so ist es eben ein Unterschied, ob ich von einem Tastsinn, Bewegungssinn und Lebenssinn spreche, also von Tasten, Leben und Bewegen, oder ob ich von einem Kraftsinn spreche. Kraft ist etwas rein Übersinnliches. Kraft kann man nicht wahrnehmen, nur indirekt darauf zurückschließen. Wir müssen unterscheiden, dass wir andere Dinge sinnlich wahrnehmen, auf Kraft aber rückschließen, weil wir über Geisteskraft verfügen, die sich im Sinnlichen betätigt – und damit im Bereich der Interpretation landen. Allein das zeigt, dass ein großer Gesprächsbedarf zwischen anthroposophischen Ärzten und Vertretern der heutigen Physiologie besteht.

Bis heute liegt noch keine wirklich vollständige anthroposophische Sinneslehre vor – trotz der schönen Ansätze von Wolfgang Michael Auer1 und anderen. Eine anthroposophische Sinneslehre müsste zwölf Bände füllen! Für jeden Sinn müsste es einen Band geben, weil die ganzen Experimente und Forschungen bis hin zu den exakten Angaben, an welchen Tieren was exemplifiziert wurde, miteinbezogen werden müssten. Das ist ein riesen Forschungsgebiet für die Zukunft.

Vgl. Vortrag „Der Bewegungssinn in Diagnostik und Therapie“, gehalten am 9. Januar 2016 an der Kunsttherapietagung

  1. Wolfgang-M. Auer, Sinnes-Welten, Kösel-Verlag 2007.