Ursprung, Verlust und Wiedererlangen von Würde

Warum hat jeder Mensch auf dieser Erde einen unmittelbaren Bezug zur Würde?

Woher wissen wir tief in uns, welches Verhalten, welcher Umgang miteinander würdevoll ist und welcher nicht?

Was ist der Ursprung dieses Wissens um die Würde?

Ähnlich wie mit dem Begriff der Gesundheit verhält es sich mit dem Begriff der menschlichen Würde. Auch hier geht es um ein komplexes Erfahrungsfeld und gleichzeitig um eine innere Haltung.

Ursprung, Verlust und Wiedererlangen von Würde

Kulturhistorisch wird der Begriff der „Würde“ von der Gottebenbildlichkeit des Menschen abgeleitet, so wie er im ersten Buch Mose beschrieben wird. Neurobiologisch führt Gerald Hüther den Ursprung unseres Wissens um Würde auf intrauterine Erfahrungen zurück, die jeder als Embryo in ähnlicher Weise macht (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Quelle eines würdigen Umgangs miteinander):

„Durch vielfältige Untersuchungen ist in den letzten Jahren belegt worden, was Kinder bereits vor der Geburt alles lernen können und wie im Mutterleib gemachte Erfahrungen im sich entwickelnden kindlichen Hirn verankert werden. Mit Abstand am wichtigsten sind die beiden Grunderfahrungen, die die gesamte vorgeburtliche Entwicklung aller Kinder überall auf der Welt bestimmen und auch noch nach der Geburt zumindest eine Zeit lang gemacht werden: die Erfahrung engster Verbundenheit mit einem (und später hoffentlich noch weiteren) anderen Menschen einerseits. Und die aus dieser Verbundenheit heraus möglich werdende Erfahrung eigenen Wachstums, eigener Weiterentwicklung, eigener Gestaltungsmöglichkeiten andererseits. Erst viel später wird ein Kind auch lernen, diese beiden Grunderfahrungen in Worte zu fassen und eine bewusste Vorstellung einer aus der eigenen Verbundenheit erwachsenden Autonomie und Freiheit zu entwickeln. Und noch später wird es vielleicht auch verstehen lernen, dass es eine besondere Art der Begegnung gibt, die Menschen miteinander so tief und verlässlich verbindet und ihnen aus dieser Verbundenheit heraus hilft, Gestalter ihres eigenen Lebens zu werden, sich weiterzuentwickeln und sich in dieser Verbundenheit als völlig freie und autonome Subjektive zu erleben (vgl. Entwicklung: Das Autonomieprinzip in der menschlichen Evolution).“1

Dass jeder Mensch im Grunde genommen weiß, was Menschenwürde ist, beruht auf dieser gemeinsamen vorgeburtlichen Erfahrung, die sich im embryonalen Gehirn und seiner Verbindung zu den anderen Organsystemen eingeprägt hat als Erlebnis: Meine Umgebung lässt mich werden – sie will offenbar meine Autonomie, mein Sosein.

Verletzung der Menschenwürde

Entsprechend schmerzlich und enttäuschend ist dann aber auch, wenn nach der Geburt diese Ur-Erfahrung nicht weiterhin bestätigt, bekräftigt und gepflegt wird, indem das Kind bedingungslos angenommen und geliebt wird. Dann wird der Weg in den Verlust der Würde gebahnt. Gerald Hüther formuliert es so:

„Wer von anderen Personen benutzt und zum Objekt von deren Absichten und Zielen, Erwartungen und Bewertungen, Belehrungen und Unterweisungen oder gar Maßnahmen und Anordnungen gemacht wird, fühlt sich zutiefst in seiner Subjekthaftigkeit und damit in seiner Würde bedroht. Als Objekt behandelt zu werden, verletzt sowohl das zutiefst menschliche Grundbedürfnis nach Verbundenheit und Zugehörigkeit als auch das nach Autonomie und Freiheit. Unter diesen Bedingungen kommt es im Gehirn zur Aktivierung derselben Netzwerke die auch dann aktiviert werden, wenn irgendetwas im eigenen Körper nicht stimmt.“2

In seiner Identität nicht respektiert zu werden und Anordnungen befolgen zu müssen, die einem widerstreben, erleben wir Menschen als Zwang, um nicht zu sagen: als Freiheitsberaubung.

Menschenverachtendes Schulsystem

So prangert Hüther den Egoismus fördernden, Würde verletzenden Charakter des heutigen Bildungswesens an:

„Mir wurde (…) klar, dass unser Bildungssystem gar nicht darauf ausgerichtet ist, Heranwachsenden dabei zu helfen, ihr Empfinden für das zu stärken, was ihre Würde ausmacht, geschweige denn eine eigene Vorstellung oder gar ein Bewusstsein ihrer Würde zu entwickeln. Noch weitaus irritierender war für mich die sich daraus zwangsläufig ergebende Frage, ob es die für Kitas, Schulen, Berufsschulen und Hochschulen Verantwortlichen überhaupt wichtig finden, Heranwachsenden dabei zu helfen, sich ihrer Würde bewusst zu werden. War das jemals ihr Anliegen? Hat das ihre Herzen bewegt? Weshalb haben Sie sich dann nicht auch darum gekümmert? Das hieße ja, dass sie sich selbst ihrer eigenen Würde noch gar nicht bewusst geworden sind. Sonst hätten sie andere Vorschriften erlassen, andere Lehrpläne entwickelt und andere Bedingungen in den Bildungseinrichtungen geschaffen. (…) Heranwachsende können unter diesen Bedingungen nur genauso würdelos werden wie diejenigen, die maßgeblich für das sind, was in diesen Bildungseinrichtungen geschieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sie später, als Erwachsene, den so entstandenen Mangel eines Bewusstseins ihrer Würde in ihrem Denken und Handeln zum Ausdruck bringen, auch dann, wenn sie ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen haben und in Führungspositionen gelandet sind.“3

Den Idealen von Gesundheit und Würde ist ihr altruistischer Charakter gemeinsam. Beide beruhen auf komplexen Erfahrungsfeldern, in denen die Selbstsorge und der Dienst an einem großen Ganzen harmonisch aufeinander bezogen sind.

Wiedererlangung von Würde durch Freiheitsbewusstsein

Der altruistische Charakter des Ideals der Freiheit lässt sich nur verstehen, wenn man die eigene Freiheit nicht gegen die Freiheit der Mitmenschen ausspielt, sondern sie jedem Menschen gleichermaßen zugesteht. Essentieller Bestandteil eines würdevollen Umgangs miteinander ist es, einander Freiräume einzuräumen. Ob jemand fähig und willens ist, seine Freiheit in Anspruch zu nehmen, steht auf einem anderen Blatt. Denn niemand kann uns ein Bewusstsein unserer Freiheit übermitteln – das müssen wir selbst erringen. Rudolf Steiner formuliert diesen Umstand in seiner „Philosophie der Freiheit“ so:

„Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann der Mensch nur selbst aus sich machen.“sup>4

Im Gegensatz zu Pflanze und Tier ist der Mensch nicht in der Lage, von Natur aus ein voll ausgebildetes Menschenwesen zu werden. Seine Menschlichkeit ist natürlicherweise nur als Veranlagung vorhanden, als Potential, das im Laufe des Lebens und der Entwicklung erst voll ausgeschöpft werden muss. Ein Hund, ein Vogel, eine Biene sind dagegen von Natur aus vollkommen sind. Ihre natürliche Entwicklung und soziale und ökologische Einbindung vollziehen sich instinktiv und wie von selbst. Bei ihnen stimmen das Ideal ihrer selbst und ihre Wirklichkeit überein. Ein Hund kann nicht „hundiger“, ein Vogel nicht „vogeliger“ und eine Biene nicht „bieniger“ werden. Es gibt jedoch keinen Menschen, der nicht noch menschlicher werden könnte. – Die politischen und wirtschaftlichen Machtspiele der Gegenwart und die Weltkriege im letzten Jahrhundert zeigen, wie destruktiv sich die typischen Entwicklungsdefizite des Menschen individuell und sozial auswirken.

Wenn aber die Gesellschaft, wie Hüther bemerkt, kein Interesse daran hat Bedingungen zu schaffen, die es dem Menschen ermöglichen sich seiner Freiheit und Würde bewusst zu werden, sondern vielmehr alles darauf angelegt ist, dass es zu einer möglichst umfassenden Anpassung an die vorgegebenen, durch Normen und Bestimmungen geprägten gesellschaftlichen Verhältnisse kommt, so bleibt wenig Spielraum für den Einzelnen, ein „freies Wesen“ aus sich zu machen.

Freiheit altruistisch umsetzen

Wem das Freiheitsideal hingegen am Herzen liegt, wird eine Lebenshaltung entwickeln, welche die eigene Freiheit nicht gegen die der anderen Menschen mithilfe von Macht, Normierungen oder Egozentrik durchsetzt (vgl. Apokalypse: Die Apokalypse als Entfaltungsgeschichte). Eine Erziehung zur Freiheit kann nur durch eine altruistische Lebenshaltung des Lehrers gelingen, sie braucht eine Pädagogik, die nicht auf den Egoismus baut (vgl. Waldorfpädagogik: Erziehung zur Selbstlosigkeit durch Waldorfpädagogik).sup>5 Im Grunde müsste sich jeder verantwortungsbewusste Mensch heute fragen:

Wenn Freiheit und Würde, Gleichheit und brüderliche Solidarität unsere Grundrechte und Werte sind – wie kann ich selbst praktischen Gebrauch davon machen?

Was kann ich dazu beitragen, dass diese Werte für jeden Menschen Realität werden könnten?

Das 21. Jahrhundert macht heute global deutlich, dass die kulturelle Entwicklung der Menschheit nur konstruktiv weitergehen kann, wenn es eine genügend große Anzahl von Menschen gibt, die sich ihrer Freiheit und Würde bewusstwerden und in der Lage sind, die Bedürfnisse der sozial benachteiligten Menschen nicht nur zu sehen und gegebenenfalls zu beklagen, sondern die auch nach den Bedingungen fragen, unter denen sich dieses soziale Gefälle entwickelt hat und wodurch es gesellschaftlich wie auch individuell überwunden werden kann (vgl. Christus heute: Christusbewusstsein entwickeln lernen). Es braucht eine genügend große Anzahl von Menschen, die verstehen, dass die sozialen Probleme letztlich Erziehungsfragen sind und die Erziehungsfragen durch eine umfassende gesundheitliche Orientierung gelöst werden müssen. Es braucht Menschen, die in allen Bereichen des Lebens ihren Beitrag leisten und bereit sind zur Überwindung der Schäden, die Egoismus und Machtmissbrauch im individuellen und sozialen Leben angerichtet haben.

Einen solchen Beitrag in aller Freiheit und Würde zu leisten, kann begeistern, weil man dabei empfinden kann, dass man daran mitwirkt, Bedingungen zu schaffen, welche die gesunde Entwicklung des Einzelnen sowie der gesellschaftlichen Verhältnisse fördern. In diesem Sinne kann es auch motivieren, sich konsequent dem Konditionierungszwang zu widersetzen, der von den digitalen Lernhilfen ausgeht, die von Industrie und Politik schon für Kitas, Kindergärten und Grundschulen empfohlen werden.sup>6

Vgl. „Die salutogenetische Orientierung der Waldorfpädagogik“, in: Medizinisch-Pädagogische Konferenz. Heft 093 2020

  1. Gerald Hüther, Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft, München 2018, S.115.
  2. Ebd., S. 123.
  3. Ebd., S. 154 ff.
  4. Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit (GA 4), S.170.
  5. Anliegen der Waldorfpädagogik ist es z.B., junge Menschen eine Erziehung angedeihen zu lassen, die sie freiheitsfähig macht.
  6. Der Ratgeber, Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt / ISBN 978-3-9820585-0-4 gibt für alle Altersstufen die passenden Tipps, wie in den Bildungseinrichtungen die für die gesunde Hirnreifung notwendige Eigenaktivität gefördert werden kann. https://www.diagnose-funk.org/publikationen/artikel/detail?newsid=1319