Quelle eines würdigen Umgangs miteinander

Woher wissen wir, wie es sich anfühlt, würdevoll behandelt zu werden?

Woher stammt dieses uns eigeborene Wissen?

Jedes Trauma verletzt den Menschen nicht nur physisch-seelisch, sondern auch in seiner Menschenwürde. Deshalb möchte ich zuerst unser aller Bezug und Sinn für Würde näher beleuchten.

Würde als Urprinzip menschlicher Erfahrung

Würde hat ganz grundsätzlich mit Respekt vor der Freiheit und Autonomie des Anderen zu tun, mit der Wahrung seiner Grenzen und Freiräume (vgl. Entwicklung: Das Autonomieprinzip in der menschlichen Evolution). Gerhard Hüter beschreibt in seinem Buch über die Würde,1 dass jeder Mensch, egal, woher er stammt, wo er lebt oder aus welcher spirituellen oder materialistischen Orientierung er kommt, durch das, was er als Embryo im Mutterleib als Grundgeste erlebte, einen Sinn für Würde entwickelt hat. Aus diesem Erleben von Gewürdigt-worden-Sein entspringt unser aller tiefinneres „Wissen“, was wohltuend und wahrhaft gesund ist (vgl. Soziales Leben und soziale Dreigliederung: Ursprung, Verlust und Wiedererlangen von Würde). Das christliche Konzept menschlicher Würde basiert auf den drei Idealen von Freiheit, Wahrheit und Liebe als urmenschlichen Gesundheitsquellen. Im Laufe des Lebens, manchmal sogar schon im Verlauf von Schwangerschaft und Geburt, wird dieses ursprüngliche Empfinden bei vielen Menschen mehr oder weniger zugeschüttet und überdeckt und kann dann oft erst mit therapeutischer Unterstützung wieder freigelegt werden.

Aus der Embryologie, aber auch aus der Biologie, wissen wir heute, dass die Embryonalentwicklung mit der Bildung von inneren und äußeren Sinnesorganen einhergeht, die in einem fein abgestimmten Zusammenspiel miteinander kommunizieren. Alle lebenden Systeme, alle Zellen, alle Organe, Organsysteme sind in Resonanz miteinander, der ganze Körper ist resonanzfähig. Wenn man sich den kleinen Finger verletzt hat, nimmt der ganze Körper das wahr und stellt sich darauf ein, versucht das verletzte Organ zu schonen bzw. die Funktion zu ersetzen und passt die Bewegungsabläufe entsprechend an. Das ist nicht nur bei Verletzungen so, das betrifft alle Lebensbereiche: Der ganze Körper muss z.B. auch an allem Anteil nehmen, was wir an Nahrung zu uns nehmen und reagiert entsprechend darauf. Denn in einem lebendigen Organismus hängt alles mit allem zusammen (vgl. Trauma – Ursachen und Behandlung: Rhythmus und Leben studieren).

Neurobiologische Grundlage der Würde

Rudolf Steiner sagt, dass ein kleines Kind ganz Sinnesorgan sei, dass sein gesamter Körper diverse Sinneseindrücke aufnimmt. Das ist schon beim Embryo im Mutterleib so, wo der Körper des Kindes unglaublich offen und in Resonanz mit der mütterlichen Umgebung ist. Diese Resonanzfähigkeit beschränkt sich nicht nur auf die bekannten äußeren Sinnesorgane, sondern erstreckt sich auf die gesamten Organ- und Zelloberflächen, die alle sensitiv und wahrnehmend sind für das, was in der Nachbarschaft geschieht.

Was ist nun die wichtigste Erfahrung, die der Embryo im Mutterleib macht?

Dass er in jedem Augenblick bekommt, was er braucht. Ihm wird seitens des mütterlichen Organismus reine Güte, reine Hingabe zuteil, pure Selbstlosigkeit. Der mütterliche Uterus ist für ihn der Lebensraum, während die Plazenta das Ernährungsorgan ist, durch die das werdende Menschenkind alles erhält, was es für seine Entwicklung braucht. Wenn man versucht, sich dieses hoch komplexe Geschehen im Detail klarzumachen, steht man vor einem unvorstellbaren Wunder.

Gerald Hüter baut auf diese geheimnisvollen intrauterinen Vorgänge seinen Würdebegriff auf. Sie sind für ihn die neurobiologische Grundlage der Würde. Jeder Mensch hat dieses würdevolle perfekt auf ihn abgestimmte Versorgt-Werden neun Monate lang erlebt, dieses Erleben hat sich seinem Organismus als Urerfahrung tief eingeprägt. Umgekehrt lässt uns diese Erfahrung auch deutlich erkennen, wenn uns etwas Unwürdiges widerfährt, das gegen das Leben, unsere Grenzen und unsere Individualität gerichtet ist.

Deshalb kommt es in der Trauma-Therapie darauf an, einen bewussten Schulungsweg einzuschlagen, der an dieses Urerlebnis des Guten anschließt. Das Erleben des Bösen ist nicht nur destruktiv für Leib und Seele, es weckt auch den Sinn für das Gute (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen). Diesen Sinn gilt es systematisch zu pflegen und zur Entwicklung zu bringen. Im 1. und 5. Kapitel des Buches von Rudolf Steiner „Wie erlangt man Erkenntnisse höherer Welten“ wird ein solcher möglicher Weg aufgezeigt.

Vgl. Vortrag zum Chirophonetik-Treffen in Erlangen, März 2019

  1. Gerald Hüther, Würde: Was uns stark macht - als Einzelne und als Gesellschaft.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.