Aggression und Sprache

Welche Rolle spielt Sprache beim Umgang mit Aggressionen?

Die Pflege der Sprache und des Gefühlslebens sind von entscheidender Bedeutung im seelischen Umgang mit aggressiven Kräften, zu denen auch die sexuellen Triebimpulse gehören. Amerikanische Untersuchungen haben ergeben, dass viele kriminelle Jugendliche und jüngere Erwachsene etwa auf dem Sprachniveau von Viertklässlern stehen. Ihr Wortschatz ist relativ gering, die Sätze werden nicht zu Ende gesprochen, Stereotypen und eingefahrene Klassifizierungen und Beurteilungen werden häufig verwendet. Sie haben nicht das Potential, seelische Erlebnisse und Sinnzusammenhänge zu verbalisieren und auszusprechen. In dieser Sprachlosigkeit liegt eine der wesentlichsten Ursachen für das Nicht-beherrschen-Können von Aggressionen im Gefühls- und Willensbereich1.

Aggression als Rückfall in kindliche Verhaltensweisen

Man kann diese Tatsache auch bei klassischen Ehekrisen in nahezu jedem diesbezüglichen Filmdrama beobachten, z.B.: Ein Paar kommt von einer Abendveranstaltung, es unterhält sich, setzt sich, trinkt etwas und dann fällt plötzlich ein Wort – oder der Tonfall der Stimme ändert sich, und der andere ist irritiert. Es folgt eine gereizte Erwiderung, und so kommt es auf der seelisch-verbalen Ebene zu einer heftigen Auseinandersetzung. Beide ringen zunehmend nach Worten, um den anderen gezielt zu treffen. Erst wenn die Worte ausbleiben, wird die Schwelle zur körperlichen Aggression überschritten. Sie kann sich in Form von Aufspringen und Türenknallen, im Ergreifen einer Blumenvase, die man nach dem anderen werfen möchte, oder in unmittelbarer körperlicher Gewalt äußern. Die Beteiligten fallen schrittweise zurück in eine frühere Entwicklungsstufe – sie regredieren: Zunächst gibt es die gedankliche Auseinandersetzung, wie dies für Erwachsene üblich und in der Regel auch ausreichend ist. Dann folgt der Rückschritt auf die emotional-sprachliche Ebene und schließlich die Regression in das kindliche Verhalten des direkten Aufeinander-Losgehens.

Aggressives Verhalten ist im Grunde genommen nur eine kindliche Form, miteinander Beziehung aufzunehmen. Es handelt sich dabei um gute Willenskräfte, die sich begegnen, die verstehen wollen, die die Auseinandersetzung, die Klärung suchen, die sich in der Auseinandersetzung mit dem anderen selbst erleben und ihrer selbst bewusst werden wollen. Es sind eigentlich gute Beweggründe, die jedoch „auf der falschen Ebene“ zur Handlung führen und daher destruktiv wirken. Durch den Kontrollverlust auf der Ebene gedanklich geführter sprachlicher Kommunikation werden diese Willenskräfte, die auf Klärung aus sind, auf der jeweils niedereren seelisch-emotionalen oder körperlich-handgreiflichen Ebene wirksam.

Zunehmende Sprachlosigkeit

Diese Art Sprachlosigkeit ist auch bei Erwachsenen ein verbreitetes Problem. Man findet keine Worte für vieles, was heute in der Welt geschieht und den Menschen schwere Sorgen bereitet: für die Umweltzerstörung, für kriegerische Auseinandersetzungen, für das Agieren von Verbrecherbanden und Syndikaten, für die Drogenkriminalität, den Kindesmissbrauch, die Gewalt, das Verbrechen – man wird immer sprachloser und unfähiger, die Fülle negativer Informationen zu verstehen und folglich zu verarbeiten. Im direkten Zusammenhang mit dieser Sprachlosigkeit sinkt ganz allgemein die Reizschwelle gegenüber Aggressionen, sodass jeder sich grundsätzlich leichter zu aggressiven Handlungen hinreißen lässt.

Die Behandlung von straffälligen Jugendlichen nimmt zunehmend auf diesen Tatbestand Rücksicht. Man übt den Dialog, man setzt Theater und Psychodrama therapeutisch ein, um die Bewegungs- und sprachliche Ausdrucksfähigkeit ins Bewusstsein zu heben und zu üben, auf diesem Weg Aggressionspotential abzubauen. Oft zeigen Jugendliche erst dann Zeichen von Mitgefühl, wenn sie das Verbrechen, das sie begingen, szenisch wiederholt haben, indem sie es selber spielen mussten.

Sprachpflege als Grundlage für klares Denken

Der Pflege der Sprache und des Sprechens (vgl. Die ersten drei Jahre: Gehen – Sprechen – Denken: Sprechen – Zuhören – Liebefähigkeit) sollte deshalb ein breiter Raum in der Schule eingeräumt werden. Sprachstörungen und Defizite im Wortschatz nehmen in erschreckender Weise zu, sodass die ersten Schuljahre im Wesentlichen dafür eingesetzt werden müssen, den Kindern erst einmal mit Hilfe von täglichen Sprach-, Sprech- und Gesprächsübungen artikuliertes Sprechen und die Befähigung zum Dialog beizubringen. Im freien Gespräch kann der Wortschatz der Schüler erweitert und das Zuhören gelernt werden. Vieles, von dem man denkt, es würde von zu Hause schon mitgebracht, muss in der Schule erst mühsam veranlagt und ausgebildet werden.

Sprachfähigkeit und ein großer Wortschatz sind die Voraussetzung für die Entwicklung eines differenzierten Denkvermögens. So wie ein gewisses Maß an Bewegungsentwicklung, insbesondere im Bereich der Feinmotorik, notwendig ist, um den anspruchsvollen Vorgang des artikulierten Sprechens vorzubereiten, ist differenzierte sprachliche Ausdrucksfähigkeit die Voraussetzung für klares Denken. Konnte sich die Bewegungsentwicklung gut vollziehen, fällt auch die Sprachentwicklung leicht. Durch die Pflege des Gespräches wiederum erfährt das Gedankenleben die notwendigen Anregungen (vgl. Elternsein heute: Die Aufgabe der Eltern nach der Pubertät ).

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Vgl. B. Sanders, Der Verlust der Sprachkultur. Frankfurt/M. '1998; den Zusammenhang von Sprachverlust und Aggression beschreibt auch sehr pointiert der folgende Satz aus dieser empfehlenswerten Publikation: „Die Pistole ist das Schreibgerät des Analphabeten“.