Aggressionsbereitschaft und Lebensgestaltung

Welche Auswirkungen hat die Lebensgestaltung auf die Aggressionsbereitschaft?

Wie kann sie in den Umgang mit Aggressivität mit eingezogen werden?

Zusammenhang zwischen Unzufriedenheit und Aggression

Jeder Mensch, der sich selbst beobachtet, kennt Momente in seinem Leben oder im Laufe des Tages, in denen er Mühe hat, sich unter Kontrolle zu halten. Diese persönliche Hemmschwelle kann infolge von Belastungen wie Hunger und Schlaflosigkeit oder aber durch Angst, durch das Gefühl, unfrei zu sein und unterdrückt zu werden, also durch seelische Belastungen verschiedenster Art, herabgesetzt sein. Wer hungrig, müde oder seelisch belastet ist, reagiert bedeutend schneller gereizt als derjenige, der satt, ausgeschlafen und relativ zufrieden ist.

Aggression ist so gesehen eine Art von Notwehr, um sich zu schützen. Man weist Anlässe oder Probleme heftig zurück, weil man nicht mehr in der Lage ist, sich ihrer anzunehmen und sie zu verarbeiten. Heute haben wir es generell mit einer zunehmenden Empfindlichkeit zu tun, mit der wir umgehen lernen müssen (vgl. Selbstbewusstsein: Gekränktes Selbstbewusstsein). Unzufriedenheit, Angst, Verzweiflung, Langeweile, Sinnlosigkeitserleben und Öde schaffen sich ein Ventil und motivieren zu aggressiven Handlungen. Wer sich überfordert, ausgegrenzt oder zu wenig beachtet fühlt oder wer verunsichert ist, neigt bedeutend leichter zu Aggressivität. So kann die zunehmende Aggressionsbereitschaft in der Gesellschaft zugleich auch als ein Maß für die wachsende Unzufriedenheit der Menschen mit sich selbst und ihren Lebensumständen angesehen werden.

Unbefriedigende Lebensgestaltung

Damit ist an das Hauptproblem im Zusammenhang mit den Ursachen von Wut und Aggression gerührt: Viele Erwachsene leben ihren Kindern nicht mehr vor, wie man sein Leben befriedigend gestalten kann. Anregende, intensive Gespräche im Familienkreis gibt es oft nicht mehr. Hinzu kommt das Fehlen von Möglichkeiten, selbst tätig zu werden (vgl. Wille(nsschulung): Motivation und Willenserziehung). Kinder können ihren Bewegungsreichtum nur entfalten, wenn sie in den ersten acht Lebensjahren die Chance haben, viel zu Fuß zu gehen und körperliche Geschicklichkeit zu erwerben. Stattdessen werden sie überall hingefahren, sitzen mit Vorliebe vor dem Fernseher, bedienen sich automatischer Spielzeuge: die ferngesteuerten Autos sausen herum und sie sind nur Zuschauer (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des physischen Leibes).

So ist es praktisch unmöglich, dass die Kontrollfunktion des Ich über den Körper und seine Trieb- und Bewegungsimpulse erworben werden kann. Auf diese Weise entsteht ein kaum nachholbares Defizit an Selbsterfahrung auf körperlicher Ebene (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Sinnestätigkeiten - Sinnespflege). Kinder können keine Freude mehr am eigenen Tun, an der Bewegung, am Dasein, entwickeln. Auch das frühe Sitzen am Computer fördert diesen Trend. Anstelle von Beschäftigungen, die zu Bewegung anregen, tritt das Tippen und die vom Computer geforderte Konzentration und körperliche Ruhe.

Bewegungsmangel und Schule

Kinder mit chronischer Bewegungsunruhe (Hyperkinetisches Syndrom) leiden insbesondere an diesem Bewegungsmangel1 (vgl. Aggression: Aktivität statt Aggression). Vielen konnte schon dadurch geholfen werden, dass sie nicht mehr mit dem Auto zur Schule gefahren wurden, sondern eine halbe Stunde Schulweg verordnet bekamen. Wer morgens gut gegessen hat und eine halbe Stunde kräftig gelaufen ist, möchte erst einmal eine Weile sitzen. Wer sein Kind jedoch täglich mit dem Auto zur Schule fährt, veranlagt das Gegenteil. Dann möchte das Kind erst einmal etwas tun und so gibt es gleich Tumult in der Klasse. Viele Lehrer meinen, die Kinder würden immer schwieriger. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Kinder werden nicht schwieriger, sondern sie haben immer weniger Chancen zu üben, ihr Willens- und Aggressionspotential sinnvoll zu betätigen. Und da die meisten Kinder schon aus ihrer Vorschulzeit einen Bewegungsmangel mitbringen, ist ein verstärkter Drang vorhanden, diese angestaute Sehnsucht nach körperlicher Betätigung und Bewegung in der Schule auszuleben (vgl. Medienpädagogik: Negative Folgen einer zu frühen Gewöhnung an digitale Medien).

Hier ist die Schule gefordert, vieles zu übernehmen und auszugleichen, was Eltern heute oft nicht mehr leisten können: Es ist dringend erforderlich, dass sich Eltern- und Lehrerinitiativen bilden, um Freizeitangebote vorzulegen und Wanderungen zu organisieren, und dass auch der gesamte Schulunterricht genügend Elemente zur Bewegungsförderung enthält. Der Lehrplan der Waldorfschule bietet zu diesem Thema eine Fülle von Möglichkeiten an, die jedoch zu ihrer Umsetzung ein hohes pädagogisches Können verlangen, sodass Lehrer diesbezüglich meist noch Weiterbildungen brauchen.2

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 3. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Es ist symptomatisch für diesen Bewegungsmangel, dass viele Kinder im Vor- und Grundschulalter nicht mehr fähig sind, rückwärts zu laufen. Auch aus diesem Grund haben in den letzten Jahren an den Grundschulen Fächer wie „psychomotorisches Spielen“ immer mehr Einzug gehalten.
  2. Vgl. Glöckler, M. (Hrsg.), Das Schulkind - Gemeinsame Aufgaben von Arzt und Lehrer. Dornach, 3. Aufl. 1998.