Fragen und Antworten zur Betreuung von Menschen mit Behinderung

FRAGE: Wenn ich mich mit einer einzelnen Biografie befasse, gibt es da Werkzeuge, sie zu verstehen oder kann das immer nur eine Ahnung bleiben?

ANTWORT: Es gibt eine Systematik, die Rudolf Steiner im Heilpädagogischen Kurs1 umrissen hat, über die wir lernen können zu lesen, was sich durch die jeweilige menschliche Konstitution ausdrückt. Um einen anderen Menschen besser erfassen zu können, muss man ihn genau wahrnehmen:

Wie atmet er?

Atmet er mehr ein oder mehr aus? (Je nachdem ergibt sich ein anderer Typ)

Wie spricht er?

Wie interagiert er?

Was tut er gern?

Was lehnt er ab?

Doch nur, wenn ich das Wahrgenommene in mir finde, begreife ich es. Wir können nur wahrnehmen, was wir kennen.

Wenn man eine fragende Haltung einnimmt im Sinne von – „Sage mir, wer du bist, ich zeige dir, wer ich bin“ – dann zeigt sich der Betreute. Man erfährt dann manchmal mehr, als wonach man gefragt hat. Doch oft wird das Interesse Opfer der Routine. Man könnte sich deshalb bewusst vornehmen, pro Monat für einen speziellen Menschen besonderes Interesse aufzubringen. Oder man praktiziert das bewusste interessierte Wahrnehmen tageweise wechselnd.

Von einem anderen verstanden zu werden wirkt heilend. Je besser ich ihn verstehe, desto besser fühlt der andere sich. Ein interessierter Blick und eine Haltung, die zeigen, dass man es ernst meint, wirken heilend und öffnen neue Bereiche im Miteinander. Man lernt unglaublich viel, wenn man sich wirklich auf einen anderen Menschen einlässt. Dazu gehört auch, wie man einander die Angst nehmen kann. Das ist eine wichtige Aufgabe.

FRAGE: Was gibt der physische Leib dem Ich? Wie verändert sich meine Beziehung zu meinem Gegenüber, wenn ich darüber Bescheid weiß?

ANTWORT: Man kommt der Antwort näher, wenn man um die Wechselbeziehung der Wesensglieder weiß (vgl. Wesensglieder: Wirkung der Wesensglieder aufeinander), über die in dem Buch „Gesundheit durch Erziehung“,2 Verlag am Goetheanum, Näheres nachzulesen ist. Auch der Diagnosebogen aus Herdecke bietet zahlreiche Anregungen dazu. Schauen Sie sich die Systematik an, ob sie Ihnen weiterhilft.

Das Ich gibt im Physischen die Form, der Astralleib ermöglicht im Physischen die Bewegung. Betrachten wir nun die Form genauer: Haben wir eine geschulte physiognomische Wahrnehmung, können wir erkennen, was die Art, wie ein Mensch geformt ist oder wie er mit Formen umgeht, über ihn aussagt.

Die Eurythmie ist ein sehr gutes Medium dafür. Deshalb machen die Ärzte bei unserer Ärzteausbildung in der ersten Stunde Eurythmie und befassen sich mit allen geometrischen Formen, die im menschlichen Körper wiederzufinden sind. Danach haben sie einen veränderten Blick für die Dinge im Außen und entdecken auch in der Natur dieselben Formen wie im Innen (vgl. Heileurythmie: Heileurythmie – Herz der anthroposophischen Medizin). Sie merken, dass der gleiche Geist überall wirkt und sich ausdrückt.

Darüber näher Bescheid zu wissen, hilft jedem Betreuer genauer wahrzunehmen. Das ist der Schlüssel zu jeder Erfahrung von Empathie: das Wiederfinden im anderen von etwas, dass man von sich selbst kennt. Wenn uns ein anderer etwas offenbart, was wir nicht von uns selbst kennen, können wir es nicht wahrnehmen und auch nicht begreifen. Wir sehen nur, was wir zu sehen erwarten. Deshalb ist es so wichtig, keine Vorurteile zu pflegen, sich immer wieder davon zu befreien. Sie begrenzen die Wahrnehmungsbereitschaft. Die Wahrnehmung ist wie ein Brautwerber, der das Gegenüber fragt:

Wie bist du geformt?

Was magst du?

Was ist das Besondere an dir?

FRAGE: Sie sagten, Selbstbewusstsein entsteht an Grenzen, durch Grenz-Erfahrungen. Behinderte machen ständig begrenzende Erfahrungen – soll ich als Betreuer diese Menschen nun zusätzlich verstärkt an ihre Grenzen bringen oder eher davor bewahren?

ANTWORT: Auch Menschen mit Behinderung sind individuell verschieden. Die Grundbedürfnisse nach Nahrung und Liebe sind gleich, alles andere ist bei jedem anders. Der Christus fragte einen Kranken:

Was willst DU, dass ich dir tun soll?

Er respektierte die Freiheit seines Gegenübers so sehr, dass er diese Frage stellte. Sie zeigt die Haltung, mit der wir an einen Mitmenschen mit einer Behinderung herangehen sollten. Sie ist die Frage, die unsere Wahrnehmungen begleiten sollte: Wenn jemand z.B. sehr oft stolpert, kann das ein Hinweis darauf sein, dass er seine Fähigkeiten erweitern, dass er geschickter werden will – dann macht es Sinn, ihm dabei zu helfen.

Wenn eine anderer ständig wie „außerhäusig“ herumläuft, aber plötzlich aufblüht (= inkarniert), wenn er Menschen trifft, sollten solche belebenden Begegnungen gefördert werden.

Jedes Erlebnis, das zu mehr Zufriedenheit bei den Betroffenen führt, sollte wiederholt, jede Eigenschaft, die diese Zufriedenheit vertiefen hilft, sollte maximal gefördert werden. Als Betreuer muss ich mich immer fragen:

Wann ist dieser Mensch am meisten er selbst?

Und dann muss ich mir Gedanken machen, wie ich die geeigneten Bedingungen dafür schaffen kann. Das kann sehr unterschiedlich sein – nicht für alle ist alles gut! Die einen möchten mehr Sinneserfahrungen machen, andere lieben das Eintauchen in die Menschenweihehandlung oder die Beteiligung an einer Aufführung, lieben Kunst: Immer geht es darum ernst zu nehmen, was man wahrnimmt. Es sollten alle Möglichkeiten, die man hat, in Erwägung gezogen werden – auch die Pflege des physischen Leibes.

ABER: Ein Mensch kann auch abwesend wirken, weil er woanders anwesend ist – so jemand sollte nicht in den Inkarnationsprozess gezwungen werden.

Vgl. Vortrag „Die Bedeutung der Biografie für die Identitätsentwicklung“ im Christopherus-Heim Laufenmühle, 19.11.2008

  1. Rudolf Steiner, Heilpädagogischer Kurs, GA 317.
  2. Leider vergriffen.