Sinn von Krankheit und Behinderung

Was ist der Sinn des spezifischen biografischen Lebens im Zusammenhang mit einer Behinderung?

Wie gestaltet sich die Selbsterfahrung, wenn ein Mensch nur hören kann und nicht sehen?

Wie, wenn er nur schauen kann und nicht hören? (Wer nicht hören kann, lässt alles seelisch außen vor, lässt es nicht in die Tiefe. Karmisch gesehen könnte das bedeuten, dass er so die Möglichkeit bekommt, tiefe seelische Wunden heilen zu lassen.)

Wie sieht die Selbsterfahrung aus, wenn man sich die Welt durch Tasten erschließen muss?

Fragen nach dem Sinn dieser Inkarnation

Diese Fragen muss man sich stellen, wenn man mit behinderten Menschen lebt und arbeitet. Denn wer ein Mensch in Wahrheit ist, geht über alles spezifische Erleben hinaus. In einem Leben arbeiten wir als Menschen jedoch an etwas ganz Bestimmtem. Durch mein Leben, durch die Art, wie ich geschaffen bin, lerne ich einen bestimmten Teil meines lebensübergreifenden umfassenden Wesens kennen und nehme diese Erfahrungen nach dem Tod in mein allgemein-geistiges Wesen auf. Durch eine spezifische Inkarnation wird uns ein spezifischer Wesensanteil aus der Fülle aller Anteile bewusst. So gesehen ist jeder Mensch eine zu erforschende Landschaft für sich. Die geistige Welt ist sehr real, wenn man sie nur ernst nehmen will. (vgl. Krankheit: Grundlegendes zum Sinn von Krankheit).

Im Hinblick auf das aktuelle Inkarnations- und Selbsterfahrungsdrama muss man sich also fragen:

Was leistet diese Biografie?

Inwiefern schenkt sie diesem Menschen Erfahrungen, die er nur auf diese Weise machen kann?

Daran schließt sich erst die Frage nach dem Sinn von Krankheit und Behinderung an (vgl. Krankheit: Krankheit, Heilung und die Frage nach dem Sinn). Jede Krankheit, jede Behinderung wirkt sich auf drei Ebenen aus. Der Sinn muss durch Fragen zu allen drei Ebenen gefunden werden.

  • Fragen auf der persönlichen Ebene

Wer lernt durch die spezielle Situation am meisten?

Geht es um eine Lektion für das Individuum, den Sinn und den Wert seines Lebens betreffend?

  • Fragen auf der sozialen Ebene

Haben andere durch den Umgang mit dieser Behinderung dazugelernt?

Menschen mit Behinderung verschaffen durch ihr Schicksal vielen Menschen gute Arbeitsplätze und damit Lektionen im Miteinander. Das hat eine große soziale Wirksamkeit.

  • Fragen auf der menschheitlichen Ebene

Der Sinn kann aber auch darin gefunden werden, dass die Vereinten Nationen sich über die behinderten Mitmenschen bewusstwerden, was unsere heutige Zeit zu ihrer Humanisierung braucht – das hätte mit der menschheitlichen Ebene zu tun (vgl. Begabung und Behinderung: Beitrag zur Humanisierung der Menschheit).

Was gibt unserer Zeit, was gibt einer Einrichtung wie dieser, was gibt einem einzelnen Menschen Identität und Antlitz?

Unsere Mitmenschen mit Behinderungen! Sie prägten den heutigen Begriff von Humanität.1 Jede Gründung einer besonderen Schule, eines besonderen Zentrums geht auf sie zurück. Sie geben anderen die Möglichkeit, authentische humane Erfahrungen zu machen. Wir anderen haben diese Erfahrungen nötiger als sie selbst.

Die sogenannten Gesunden dagegen benehmen sich völlig daneben, sie schädigen die Umwelt, beuten die Erde aus und angesichts von Krisen haben sie nichts Besseres zu tun, als das schädigende System weiter aufrecht zu erhalten, indem sie Milliarden hineinpumpen. Das zeigt, wie sehr die normale Welt sich selbst behindert, wie chronisch lernresistent – es ist eine verkehrte Welt!

Karmische Aspekte in Betracht ziehen

Was die genauen Hintergründe und möglichen karmischen Ursachen einer Krankheit oder Behinderung sind, lässt sich nur ganz individuell herausfinden – vom Betroffenen selbst (vgl. Begabung und Behinderung: Zum Verständnis von Krankheit und Behinderung). Er muss und möchte dieses Lebensrätsel selbst lösen – indem er es lebt. Ich als Betreuer darf ihm das nicht sagen, darf keine Erklärungen bieten, selbst wenn ich meine, das eine oder andere zu wissen. Wenn Sie sich im Umgang mit den von Ihnen betreuten Menschen in dem einen oder anderen Fall konkret fragen, was der Sinn seiner Krankheit sein könnte, um ihm besser gerecht zu werden, müssen Sie lernen zu fragen, wer hier was lernt. Es müssen immer alle drei Ebenen in Betracht gezogen werden.

Manche Menschen mit einer Behinderung behalten immer ein „Umweltbewusstsein“, sie werden sich nie ihrer selbst bewusst. In diesen Fällen lernen vor allem die anderen und bilden ihre Identität am Schicksal der Betroffenen. Gerade in Einrichtungen wie diesen gibt es erstaunliche Biografien, manche werden bis zu 70 Jahren alt.

In einer solchen Lebenszeit prägen sich unzählige Erfahrungen über die Sinne ein wie z.B. Begegnungen mit den Mitarbeitern, mit ganzen Generationen von Mitarbeitern, Azubis und Praktikanten. Diese Menschen erleben Beziehungen ohne Schuld. Es sind Inkarnationen im Dienst der Menschlichkeit, der ungestörten, schuldlosen Beziehungspflege. Stirbt so jemand, geht er mit einer unglaublichen Schicksalsbereicherung in die geistige Welt ein.

Man kann sich nun gut seine nächste Inkarnation vorstellen (vgl. Entwicklung: Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung), in der diese riesigen unverbrauchten sozialen Kompetenzen in einem dazu passenden Leib ausgelebt werden können und die Mitmenschen sich fragen, wie ein Mensch solche Fähigkeiten in sich vereinen kann. Besondere Leistungen sind immer auf besondere Erfahrungen im Vorfeld, in einem früheren Leben, zurückzuführen.

Vgl. Vortrag „Die Bedeutung der Biografie für die Identitäts-Entwicklung“, Christopherus-Heim Laufenmühle, 19.11.2008

  1. „In Anerkennung des wertvollen Beitrags, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaften leisten und leisten können, und in der Erkenntnis, dass die Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen sowie ihrer uneingeschränkten Teilhabe ihr Zugehörigkeitsgefühl verstärken und zu erheblichen Fortschritten in der menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft und bei der Beseitigung der Armut führen wird. Die sogenannten Menschen mit Förderbedarf oder Behinderung leisten einen bedeutenden Beitrag zur Humanisierung der Menschheit.“ (Aus: Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006. Präambel, Absatz m)