Entwicklungsgedanke und Wiederverkörperung
Welche Perspektiven und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet der Gedanke der Wiederverkörperung?
Viele Leben für Entwicklung nötig
Der Gedanke der Wiederverkörperung ist so alt wie die Menschheit. Wer ein meditatives Leben beginnt, bemerkt bald, wie viel es noch zu lernen und zu erfahren gilt.
Wer kann sagen, er sei bereits ein voll entwickelter Mensch?
Wer will schon von sich behaupten, dass er sein Entwicklungsziel erreicht hat und tatsächlich „am Ende“ ist?
Selbst große Geister wie Goethe waren davon überzeugt, dass es nötig ist, wiederzukommen, um weiter zu lernen. Emil Bock befasste sich mit Persönlichkeiten im (mittel)europäischen Raum, die davon überzeugt waren, dass der Mensch nicht nur einmal lebt; die das Gesetz von Reinkarnation und Karma als für alle Menschen gültig erachteten.1 Bock war der Überzeugung, dass jeder, der sich ernsthaft mit der Tatsache auseinandersetzt, dass man sich als Mensch nicht nur körperlich entwickelt, sondern auch seelisch und geistig, auf den Gedanken der Wiederverkörperung kommt: dass der Mensch viele Leben braucht, um nur annähernd das Ausmaß an Freiheit, Würde, Selbstachtung, Respekt, Verständnis, Mitleid und Liebe für andere zu erwerben, das einen wirklich „guten Menschen“ ausmacht.
Schicksal als Lernfeld begreifen
Jeder Mensch hat seine besondere Art zu sein und sich zu entwickeln – weil jeder sein eigenes Schicksal hat, auch wenn viele über Zeiten hinweg zusammenleben und innig befreundet sein können. Auch eineiige Zwillinge verbringen ihre Leben oft an getrennten Orten, in verschiedenen Berufen und selbstverständlich mit verschiedenen Lebenspartnern etc. Jeder Mensch hat sein eigenes Schicksal mit seiner eigenen Krankheitsdisposition. Sich diesbezüglich eine Art geistiger Identifikationsmöglichkeit zu erarbeiten, erscheint mir in der heutigen Zeit besonders wichtig.
Unter dem Aspekt wiederholter Erdenleben und fortschreitender Bewusstseinsentwicklung ändert sich auch das Verhältnis, das man zum eigenen Körper hat. Man ist durch ihn nicht mehr nur Mann oder Frau, Engländer, Schwarzafrikaner, Chinese oder Deutscher. Vielmehr begreift man ihn als Instrument der Weiterentwicklung. Man erlebt die eigene Identität immer mehr im rein Menschlichen und weniger im Mann- oder Frausein bzw. in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Hautfarbe, einem Volkstum oder einer Religion. Der Körper ist das Erdeninstrument des Schicksals. Von seinen Begabungen und Behinderungen, seinem Aussehen und Geschlecht hängt es zu einem großen Teil ab, wie sich dieses gestaltet.2 Man erlebt, wie vieles im eigenen Schicksal gerade von der besonderen Konstitution in diesem Leben abhängig ist und dass dieses Schicksal seinen eigenen Gesetzen folgt.
Vertrauen in das eigene Schicksal entwickeln
Das erfuhr ich eindrücklich während meiner Zeit auf der Intensivstation. Der Laie denkt in der Regel, dass dort „Halbgötter in Weiß“ mithilfe von Schläuchen und Nadeln Leben erhalten. Das stimmt so nicht. Es trifft nicht einmal auf die Neu- und Frühgeborenen-Station zu: Ich habe dort Kinder sterben sehen, deren Tod niemand vorausgesehen hätte und ich habe Kinder überleben sehen, bei denen niemand es für möglich gehalten hätte.
In mehreren Fällen hatte sogar das ethische Komitee bereits entschieden, alle Apparate abzustellen und diese Kinder nur noch zu pflegen und zu ernähren, weil sie mehrfach behindert waren. Sie überlebten trotzdem, unter erschwerten Bedingungen ohne zusätzliche Beatmung, bis die Eltern angesichts des Lebenswillens ihres Kindes bewusst und entschieden „Ja“ zu ihnen sagten.
Durch diese Erfahrungen entwickelte ich als Ärztin ein ganz tiefes Vertrauen in das Schicksal der betreffenden Menschen – und damit rühren wir jetzt an eine andere Dimension: Es gibt Menschen, die früh sterben, als Kinder oder im frühen Erwachsenenalter. Und es gibt Menschen – deren gibt es heute viele, – die erst hochbetagt sterben. Es ist aber auch so, dass manche Kinder durch einen Unfall, den man nicht hatte vermeiden können, durch Bedingungen, die man geschaffen hat, und die zu hinterfragen müßig ist, verletzt werden und lebenslang behindert bleiben. Dazu ein besonders anrührendes Beispiel.
Ein Ort der Weiterbildung für besondere Menschen
In der Nähe von Nagano, in den Bergen Japans, liegt Suirin,3 ein besonderer Ort für Studium und Weiterbildung, im traditionell japanischen Stil geführt, mit exzellenter biologischer Küche, angenehmen Räumen mit Holzverkleidung, mitten in der Natur. Etwa 100 Menschen können hier untergebracht und verpflegt werden. Das ganze Jahr über finden die verschiedensten Seminare, Kurse und wissenschaftlichen Kolloquien statt. Jetzt ist noch ein weiteres Haus geplant für das Zusammenleben mit alten Menschen. Die Mehrzahl der über 30 MitarbeiterInnen besteht aus Jugendlichen, die aufgrund von Anpassungsstörungen, psychischen Krankheiten und Behinderungen bisher keine Arbeitsstelle finden konnten. Hier lernen sie nicht nur ein gesundes regelmäßiges Leben kennen, sondern werden auch ausgebildet in Haushaltswirtschaft, Pflege und verschiedenen sozialen Diensten. Nach dieser mehrjährigen Ausbildungszeit können sie in der Regel ein selbständiges Leben aufnehmen. Die Anmeldelisten übersteigen weit die Möglichkeiten der Aufnahme.
Woher kam dieser Impuls, der sich im Laufe von 30 Jahren so erfolgreich entwickelt hat?
Einem Elternpaar wurde vor 30 Jahren ein schwerstbehindertes Mädchen geboren, das weder gehen noch sprechen lernen konnte. Sie waren von Anfang an darauf angewiesen, sich rein emotional-intuitiv mit ihrer Tochter zu verständigen. Sie entschieden sich für ein neues Leben mit ihrer Tochter, suchten einen besonders schönen, gesunden Lebensraum und begründeten – sozusagen um die Tochter herum – die eben skizzierte soziale Einrichtung. Ohne sie wäre das Leben der Eltern in konventioneller Weise weitergegangen – nie wären sie auf den Gedanken gekommen einen Ort Menschlichkeit und kultureller Vielfalt zu schaffen.
So kann ein Erdenleben auch einmal ganz im Zeichen der Hilfsbedürftigkeit, im Empfangen, verbracht werden. Dadurch bekommen andere die Möglichkeit, unermesslich viel zu lernen, insbesondere auf sozialem Felde.
Vgl. Vom Sinn der … Krankheiten, in: Meditation in der Anthroposophischen Medizin, 1. Kap., Berlin 2016
- Emil Bock, Wiederholte Erdenleben. Die Wiederverkörperungsidee der deutschen Geistesgeschichte, Verlag Urachhaus, Stuttgart 1996.
- Michaela Glöckler, Begabung und Behinderung, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2004.
- Siehe http://www.suirin.com/English/welcome.html