Die Beziehung zum Weltganzen pflegen
Beziehungspflege ist nicht nur im persönlichen Bereich einer Partnerschaft, Freundschaft oder Familie möglich und nötig, sondern auch im überpersönlichen Bereich.
Brücken schlagende Fragen
Man kann sich dem annähern, indem man sich fragt:
Mit wem alles lebe ich in dieser Stadt, in diesem Land zusammen?
Mit wem alles bin ich verbunden durch die Muttersprache?
Wie viele verschiedene religiöse Bekenntnisse gibt es an dem Ort, an dem ich lebe?
Was sagen mir der Koran oder die Reden des Buddha?
Mit welchen Fragestellungen, Ereignissen und Menschen bin ich als Zeitgenosse dadurch verbunden, dass ich in diesem Jahrhundert lebe?
Welche Beziehung habe ich zu unserer Zeit und ihren Herausforderungen?
Wie vieles gibt es, von dem ich meine, dass es nur andere betrifft, aber nicht mich?
Ist die Drogenproblematik nur ein Problem von Menschen, die aus welchen Gründen auch immer ihr Leben nicht richtig in die Hand bekommen?
Habe ich nicht selbst auch Suchttendenzen?
Sind Korruption und Steuerhinterziehung, von denen ich in der Zeitung lese, nicht etwas, zu dem ich die Veranlagung im Kleinen auch habe?
Kann ich verstehen, was geschehen muss, damit man sich in so etwas hereinziehen lässt?
Was muss denn geschehen, damit ein Mensch zum Verbrecher wird?
Was alles verdanke ich meinem eigenen Schicksal, meinem Umfeld und meiner Erziehung, dass mein Weg nicht ins Gefängnis führte?
Wer sich ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzt, wird bemerken, dass es im Grunde nichts gibt, zu dem man nicht auch eine innere Neigung in sich entdecken kann – und sei sie noch so verborgen.
Dem Negativen und Bösen in sich auf der Spur
Jeder Mensch trägt die Anlagen zum Guten wie auch zum Bösen in sich. Goethe, der zu sich rigoros ehrlich war, brachte wiederholt zum Ausdruck, dass er im Laufe seines Lebens zahlreiche Neigungen zum Bösen in sich entdeckt habe (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierungsprozesse in der Menschheitsentwicklung). Er dankte seinem gütigen Geschick, dass es ihm die Kraft gab, das Böse seine Handlungen und sein Verhalten nicht bestimmen zu lassen, sondern es in sich zu halten und zu verwandeln. Er wusste – und hat dies im Faust dargestellt –, dass jeder Mensch heute, bewusst oder unbewusst, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. Alles hängt davon ab, ob man sich dieser Tatsache bewusstwird und entsprechend an sich arbeitet.
Je mehr man in sich selbst die Neigungen und Tendenzen zu dem Tun und Lassen in der Welt wiederfindet, desto mehr erwacht durch diesen Weltbezug im Ich ein globales Bewusstsein. Dann beginnt man auch Probleme wie Jugendkriminalität und Gewalt zu verstehen. Man kann sich fragen:
Wann reagiere ich aggressiv und bin geneigt „auszurasten"?
Wenn man entdeckt, dass man immer gereizt reagiert, wenn man müde oder hungrig ist oder unter Stress steht, wird mit einem Male angesichts eines aggressiven Jugendlichen oder Erwachsenen in einem die mitfühlende Frage auftauchen:
Warum fühlte sich dieser Mensch so wenig wohl, dass er so handeln musste?
Anstatt emotionaler Verneinung und Verurteilung beginnt sich Verständnis und die Frage nach den wahren Ursachen zu regen. Das tiefe Interesse am anderen, der Wunsch, wirklich zu verstehen, erweckt und befähigt, mit den Herausforderungen und Auswüchsen unserer Zeit sinnstiftend umzugehen (vgl. Begabung und Behinderung: Bewusster Umgang mit Not und Zerstörung).
Vgl. „Welchen Auftrag hat die Religion in Erziehung und Heilkunst?“ aus „Die Heilkraft der Religion“, Stuttgart 1997