Gefühl im Spannungsfeld von Sinneserfahrung und Denken

Inwiefern ist unser Gefühlsleben einem Spannungsfeld ausgesetzt?

Wie können wir konstruktiv damit umgehen?

Von gegensätzlichen Polen geprägt

Das Gefühlsleben empfängt seine bewusste Prägung und Differenzierung über die Sinnesorgane und über das Denken. Im Spannungsfeld dieser beiden Formen des Selbsterlebens erwacht die individuelle Persönlichkeit. Die Welt beeindruckt den Menschen über die Sinne als etwas Objektives; durch das Fühlen werden diese Eindrücke zu etwas Persönlichem. Auch klare, überindividuell gültige Gedanken werden erst durch das Gefühl persönlich bedeutsam, indem sie von verschiedenen Menschen unterschiedlich gewichtet werden – was für den einen von großer Bedeutung ist, ist für den anderen unwichtig oder bleibt unbeachtet. Nur über das Gefühl können wir einen persönlichen Sinnbezug zur Welt herstellen.

Und so ist es berechtigt, das Gefühl als das Zentrum der Persönlichkeit anzusprechen. Das erklärt auch, warum die Angst vor Gefühlen oder vor dem Zeigen von Gefühlen noch immer weit verbreitet ist. Man scheut sich, sich so persönlich zu zeigen. Es ist leichter, Gefühle zu unterdrücken oder zu verdrängen, als sie ernst zu nehmen, sie zu fühlen und anderen zu zeigen und dadurch in die Lage zu kommen, bewusst daran zu arbeiten. Darum aber geht es heute.

Nötige Anerkennung der Gefühle

Die Zeit ist vorbei, in der man Gefühle ausklammern bzw. über das Persönliche anderer Menschen einfach hinweggehen konnte. Das berufliche und das private Leben verlangen immer mehr, dass nicht nur die Arbeitsleistung Anerkennung findet, sondern auch der Mensch selber, seine Persönlichkeit mit ihren Stärken und Schwächen. Darauf sind wir kulturell schlecht vorbereitet. Wo man nur hinschaut, mangelt es an sozialer Wahrnehmung, an Mitgefühl und an „Sensibilität“ für das, was wirklich gebraucht wird (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Erkennen der eigenen Antisozialität). Es erfordert echtes Interesse am Menschen und die Bereitschaft, mit dem anderen mitzufühlen, um seine Lage verstehen zu können und ihm zu helfen, den für ihn sinnvollen Platz im Leben zu finden.

Es gibt eine Vielzahl spezieller Therapieverfahren, die Menschen dabei unterstützen, ihr Gefühlsleben zu entdecken und zu aktivieren: Körpertherapie, Sensitivity-Training, Massagetechniken, Gestalttherapie, Bioenergetik, Primärtherapie und nicht zuletzt die künstlerischen Therapien.1. Die wachsende Zahl an Therapiemöglichkeiten macht deutlich, dass wir Menschen uns des Mangels an Gefühlskultur und -erziehung bewusst geworden sind, und wir versuchen nun, mithilfe von Therapie dieses Defizit auszugleichen vgl. Gefühle und Fühlen: Müde, kraftlos, unkonzentriert – Was sind die Ursachen?).

Gefühle als Voraussetzung für Lernprozesse

In der gegenwärtigen Erziehungspraxis liegt der Schwerpunkt weltweit immer noch auf dem „Beibringen von Wissen“: Intelligente Leistungen werden einseitig benotet, sportliche Aktivitäten dienen als Ausgleich und werden in reichem Maße angeboten. Damit wird aber das Zentrum der menschlichen Persönlichkeit, das Gefühlsleben, vernachlässigt. Das ist umso unverständlicher, als man aus der Lernpsychologie weiß, dass Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene das am besten lernen und behalten, wofür sie sich wirklich interessieren und auch begeistern. Was man ohne Gefühlsbeteiligung lernt, wird entweder erst gar nicht behalten oder rasch wieder vergessen. Das Erkenntnisleben, besonders aber das Erinnerungsvermögen, sind in hohem Maß abhängig davon, wofür wir uns gefühlsmäßig „erwärmen“.

Diese fundamentale Tatsache wird auch von Rudolf Steiner in seinem Schulungsbuch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ von den verschiedensten Seiten beleuchtet und angesprochen. So lesen wir schon im ersten Kapitel mit der Überschrift „Bedingungen“, welch zentrale Bedeutung dem Gefühlsleben für die höhere Erkenntnis geistiger Zusammenhänge zukommt:

Gefühl und höhere Erkenntnis

„Es wird dem Menschen anfangs nicht leicht, zu glauben, dass Gefühle wie Ehrerbietung, Achtung usw. etwas mit seiner Erkenntnis zu tun haben. Dies rührt davon her, dass man geneigt ist, die Erkenntnis als eine Fähigkeit für sich hinzustellen, die mit dem in keiner Verbindung steht, was sonst in der Seele vorgeht. Man bedenkt dabei aber nicht, dass die Seele es ist, welche erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. Wenn man dem Leib Steine statt Brot gibt, so erstirbt seine Tätigkeit. Ähnlich ist es mit der Seele. Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens. Missachtung, Antipathie, Unterschätzung des Anerkennenswerten bewirken Lähmung und Ersterben der erkennenden Tätigkeit. [...] Erst was wir im Innern erleben, gibt uns den Schlüssel zu den Schönheiten der Außenwelt. Der eine fährt über das Meer, und nur wenig innere Erlebnisse ziehen durch seine Seele; der andere empfindet dabei die ewige Sprache des Weltengeistes; ihm enthüllen sich geheime Rätsel der Schöpfung. Man muss gelernt haben, mit seinen eigenen Gefühlen, Vorstellungen umzugehen, wenn man ein inhaltsvolles Verhältnis zur Außenwelt entwickeln will. Die Außenwelt ist in all ihren Erscheinungen erfüllt von göttlicher Herrlichkeit; aber man muss das Göttliche erst in seiner Seele selbst erlebt haben, wenn man es in der Umgebung finden will.“3

Die Schulung des Gefühlslebens über die verschiedenen Sinnestätigkeiten (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Sinnestätigkeiten - Sinnespflege) und das Erarbeiten gedanklicher Zusammenhänge, deren Sinnhaftigkeit man über das Gefühl erlebt, kann zur Vorbereitung werden für eine bewusste seelische Schulung, bei der Gefühlskultur und Persönlichkeitsentwicklung Hand in Hand gehen.

Suche nach dem verlorenen Paradies

Alice Miller hat in ihrem Buch „Das Drama des begabten Kindes“3 dargestellt, wie viele Menschen im späteren Leben daran kranken, dass sie in der Kindheit ihre eigenen Gefühle nicht äußern, leben und bejahen durften. Es war ihnen verwehrt, auf dieser Grundlage ein ehrliches und starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Um es den Erwachsenen recht zu machen und sich an deren Bedürfnisse anzupassen, mussten sie vieles verdrängen, was sie dann im späteren Leben suchten.

Miller sehnte sich schon als Kind

  • angenommen zu werden, wie sie war,

  • ihre Gefühle und Reaktionen spontan und ehrlich zeigen zu dürfen,

  • keine Angst zu haben, deswegen von ihrem Umfeld abgelehnt oder lächerlich gemacht zu werden.

So erging und ergeht es vielen Menschen. Im späteren Leben werden dann Freunde, Lebenspartner oder die eigenen Kinder Opfer einer Suche nach „dem verlorenen Paradies“: Von ihnen wird nun erwartet, dass sie das geben können, was man selbst in der frühen Kindheit vermisst hat (vgl. Begabung und Behinderung: Das Ich im Kontext von Behinderung und Begabung). Auch wenn Alice Miller als psychoanalytisch geschulte Psychotherapeutin die Bedeutung des Denkens für die seelische Entwicklung unterschätzt und die spirituelle Dimension der Entwicklung nicht einbezieht, ist es doch ihr Verdienst, Millionen von Menschen auf die zentrale Stellung des Gefühls für die Persönlichkeitsentwicklung aufmerksam gemacht zu haben.

Erziehung in einem repressiven System

In diesem Zusammenhang sei auch auf die Bücher von Hans-Joachim Maaz hingewiesen, der die Folgen des repressiven Systems der ehemaligen DDR mit ihren verheerenden Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Erwachsenen beschreibt. In seinem „Psychogramm der DDR“ sagt er:

„Die wesentlichen Gefühlsqualitäten (Angst bei Bedrohung der Befriedigung und bei Befriedigungsstau, Wut bei der Behinderung der Befriedigung, Schmerz bei Mangel an Befriedigung, Trauer bei Verlust der Befriedigungsquelle und Lust bei erfolgter Befriedigung) waren allesamt tabuisiert [...] Die Erziehungsmittel gegen Angst waren Beschämung und Forderung, gegen Wut wurden moralische Erschütterung oder autoritäre Gewalt und Strafen eingesetzt, bei Schmerz waren vor allem Ablenkung und billiger Trost probate Mittel, und Trauer wurde meist durch schnellen Ersatz, durch Orientierung auf neue Möglichkeiten vermieden. Auch hier waren sich Eltern, Schule und Staat einig: Das Kind hatte sich anzupassen, zu gehorchen, ruhig und gefügig zu sein. Die gefühlsunterdrückende Erziehung konnte man auf jedem Kinderspielplatz, in jedem Eisenbahnabteil, in jeder Schulklasse beobachten. Die Erwachsenen reagierten entnervt auf Gefühlsäußerungen, sie ermahnten, beruhigten, sprachen Verbote aus oder verteilten drohende Klapse. Eine Bejahung und Förderung des Gefühls war so gut wie unbekannt. [...] So beherrschten unterdrückte und abgespaltene Gefühle das Leben unserer Kinder, machten sie blass und gehemmt und mitunter, scheinbar zusammenhanglos, aggressiv-unruhig, gereizt oder still-depressiv und kontaktscheu.“5

Gefühle sind die stärksten Kräfte der Persönlichkeit, aber auch die verletzlichsten. Sie stehen im Zentrum menschlicher Beziehungen. Über sie kann in großem Ausmaß Einfluss auf andere genommen und Abhängigkeit erzeugt werden. Daher ist das Umgehen-Lernen mit dem eigenen Gefühlsleben und mit den Wirkungen, die es auf andere Menschen haben kann, ausschlaggebend für die heranreifende Persönlichkeit und ihre „Ausstrahlung“.

Gefühle bestimmen über das soziale Miteinander

Das Gefühlsleben bestimmt die Art und Weise, wie das Beziehungsnetz der Menschen untereinander geknüpft wird und trägt. Es schützt uns davor, unseren Mitmenschen zu schaden und ihnen Destruktives anzutun. Ein Mangel an Mitgefühl bringt den Menschen in Gefahr, seine Intelligenz zu missbrauchen und nicht zum Wohle seiner Umgebung einzusetzen. Denken und Handeln werden erst durch Mitgefühl „menschlich“. So ist auch zu verstehen, warum wir immer wieder so viel Brutalität erleben. Denn unserer Kultur mangelt es nicht an Intelligenz und „Aktion“ – sondern an der Ausbildung und Pflege eines gesunden Gefühlslebens (vgl. Anthroposophische Menschenkunde: Begabungen des Astralleibes).

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 2. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Vgl. hierzu M. Treichler, Mensch - Kunst - Therapie. Urachhaus, Stuttgart 1996.
  2. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? GA 10, Erscheinungsjahr, S. 25f.
  3. Alice Miller, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt a. M. 1995.
  4. H.-J. Maaz, Der Gefühlsstau. Argon 1990.