Vom Umgang mit Lebensrhythmen gestern und heute
Wie gehen Menschen heutzutage mit Lebensrhythmen um?
Welche Auswirkungen hat es auf unser Leben?
Wie wurde das in früheren Zeiten gehandhabt?
Ent-Rhythmisierung des heutigen Lebens
„Heute arbeiten in den Industrieländern mehr als 20% aller Beschäftigten im Nachtschichtdienst. Wir machen nicht nur mit unseren technischen Mitteln die Nacht zum Tage, wir können auch mit unseren chemischen Substanzen Wachheit in Schlaf und Müdigkeit in Leistungsbereitschaft verwandeln. Mit Hormongaben kann der Mensch den Menstruationsrhythmus, der schon wegen der ähnlichen Periodendauer Beziehungen zum Mondrhythmus vermuten lässt, nach Belieben verschieben oder unterbrechen. Selbst die Zeitpunkte für Geburt und Tod werden nicht mehr der Natur überlassen. Zu jeder Jahreszeit und an jedem Ort können wir mit technischen Mitteln jedes beliebige Klima in unserem Lebensraum herstellen. Durch Flugreisen können wir sprunghaft Zeitzonen und Jahreszeiten wechseln, und auch die kosmetischen Unternehmungen oder die Technik der Herzschrittmacher, mit denen das Tempo des Herzschlages gesteuert werden kann, belegen zunehmende Freiheitsgrade im Zeitverhalten des Menschen."1
So charakterisierte der bekannte Rhythmusforscher und Arbeitsphysiologe Gunther Hildebrandt bereits 1994 die Ent-Rhythmisierung vieler Lebensgewohnheiten.
Jetzt, im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, werden Rhythmen als „Biorhythmen" wiederentdeckt. Sie werden als die Regulatoren von Leben und Stabilisatoren von Lebensqualität erforscht und diskutiert.
Wer über das Leben nachdenkt, kann leicht bemerken, dass die gesamte Evolution mit all ihren Naturreichen von Rhythmen bestimmt ist, dass sie ein Ergebnis unermüdlicher rhythmischer Vorgänge ist. Wenn Zeitabläufe beschrieben werden, Geschichte sich ereignet, setzt das bereits Zeitgeber und Rhythmen voraus, durch die man sie messen bzw. beschreiben kann. Rhythmen erweisen sich demnach als etwas Ursprüngliches, allem zugrunde Liegendes (vgl. Lebensrhythmen: Pflege von Lebensrhythmen1 in der Kindheit).
Lebensrhythmen in der Menschheitsgeschichte und in der Gegenwart
Gehen wir in der geschichtlichen Entwicklung ein paar Jahrhunderte zurück, sehen wir, dass die Pflege von Rhythmen in der Gesellschaft einen hohen Stellenwert hatte. Die früheren Arbeitskulturen waren auf Rhythmen aufgebaut: Tageslauf, Wochen-, Monats- und Jahresrhythmen gaben dem Leben Halt und Struktur. Viele Tätigkeiten wurden von Gesängen begleitet, insbesondere in Landwirtschaft und Handwerk. Hinzu kam die Pflege des religiösen Lebens, das ohnehin ganz auf Rhythmen basiert, in die Gebete, Rituale und Feste eingebettet sind. Man wusste, dass eine Kultur, eine Zivilisation, eine Gemeinschaft, nur gesund bleiben kann, wenn sie ihre Werte pflegt, wenn sie wiederkehrende Rituale hat, wenn sie Willens- und Gefühlsverbindlichkeiten eingeht. Auch die alten medizinischen Systeme, ob Ayurveda, Traditionelle Chinesische Medizin oder unsere europäische volksmedizinische Tradition, bauten auf die Beachtung bestimmter Rhythmen zur Prävention von Krankheit.
Gegenwärtig sind die meisten Menschen jedoch aus einer rhythmischen Lebensführung ausgestiegen. Das an den wirtschaftlichen Sachzwängen orientierte Leben erfordert die genannte Nacht- und Schichtarbeit, Hetze, Stress, Tempo. Inzwischen leben und arbeiten Menschen schon mehrheitlich ohne klare Zeitstrukturen, ohne äußere und/oder innere Rhythmen. Auch wenn wir erstaunlich anpassungsfähig sind, zeigt sich zunehmend, dass es nicht mehr lange so weitergehen kann. Wir Menschen ertragen diese Lebensform auf Dauer nicht. Zwar gibt die Routine noch einen gewissen Halt, aber wenn auch das wegbricht – sei es, dass man die Arbeit verliert oder dass man krank wird – hängt man wirklich „in der Luft". Man fühlt sich nicht mehr im Prozess, nicht mehr im Gleichgewicht und nicht mehr produktiv. Da kann es helfen, einen neuen Zusammenhang zu den das das Leben kon-stituierenden Rhythmen herzustellen.
Vgl. „Kraftquelle Rhythmus“, gesundheit aktiv, 2. Auflage, Bad Liebenzell 2008
- Gunther Hildebrandt, Die Zeitgestalt des Menschen. Novalis Nr. 10/11 1994.