Frage nach einer erneuerten Mysterienmedizin

Wie kam es zur Erneuerung der Mysterienmedizin durch Rudolf Steiner?

Welcher Schicksalsmoment führte dazu?

Schicksalhafter Sommer 1923

Der Sommer 1923 stellte Rudolf Steiner vor äußerst schwierige Entscheidungen, weil noch nicht klar war, was mit dem abgebrannten ersten Goetheanum und mit der Anthroposophischen Gesellschaft geschehen sollte. Man kann nicht einfach weiter machen, wenn das Lebenswerk verbrennt in einer Nacht. Man muss sich zumindest fragen:

Was sagt mir das alles?

Soll ich jetzt hier eine Zäsur machen?

Rudolf Steiner besprach sich mit engen Freunden. In dieser Situation spielte eine Frage, die Ita Wegman Rudolf Steiner in diesem Sommer stellte, eine entscheidende Rolle.

Es gibt eine berührende Schilderung von Ita Wegman, laut der Rudolf Steiner ihr sagte, dass er überlege, die Gesellschaft ihre eigenen Wege gehen zu lassen und eine Art Orden zu gründen, sich mit wenigen kompetenten Menschen zurückzuziehen und intensiv mit ihnen zu arbeiten. Daraufhin erwiderte Ita Wegman sinngemäß: „Aber Herr Doktor, Sie können die Anthroposophische Gesellschaft doch nicht allein lassen!“

Zukunftsweisende Fragen

In einem anderen Gespräch in England fragte sie ihn:1

Warum wird das Mysterienhafte in der Medizin nicht mehr auf den Vordergrund gesetzt und in eine Form gegossen?

Warum müssen die medizinischen Kurse so intellektuell gegeben werden?

Ist es nicht möglich, eine medizinische Mysterienschule zu begründen?

Sie beschrieb später, worum es ihr genau ging (vgl. Anthroposophische Medizin: Ita Wegmann und die Entwicklung der Anthroposophischen Medizin):

„Das Mysterienprinzip ist, dass man bildhaft denken lernt, dass die Geschehnisse im ganzen Weltall in Bildern aufgenommen werden, so auch das Heilen im Kosmos und das Heilen im Mikrokosmos, das nur ein Bild ist des Makrokosmischen. In Meditationen müssen die Bilder dann zusammengefasst werden.“ 2

Diese Frage nach einer Mysterienmedizin, bekannte Rudolf Steiner später gegenüber seinem Freund Willem Zeylmans van Emmichoven, dem holländischen Arzt und Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft, wäre die Parzivalfrage für ihn gewesen, die ihm die Möglichkeit gegeben hätte, die sogenannte „Weihnachtstagung“ zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft abzuhalten und die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft als das zu begründen, was sie heute ist – eine esoterische, öffentliche Einrichtung (vgl. Freie Hochschule für Geisteswissenschaft: Arbeitsanliegen der Hochschule).

Freiheit und Liebe als Führer

Ein Eingeweihter kann nur handeln, wenn ein anderer ihn darum bittet. Er kann nicht von sich aus handeln, aus einem noch so edlen Geltungs- und Missionsdrang heraus – das wäre mit der Freiheit seiner Mitmenschen nicht vereinbar. Eine Handlung ist nur dann freilassend, wenn nach ihr gefragt wird, wenn sie also erwünscht ist. Der christliche Eingeweihte ist dazu angehalten, die Ideale von Freiheit und Liebe (vgl. Ideale: Die Ur-Ideale – Wahrheit, Liebe und Freiheit) in allen Lebenslagen als seine Führer zu nehmen und die Suche nach Wahrheit immer in den Dienst von Freiheit und Liebe zu stellen.

Es reicht jedoch nicht, dass jemand sagt: „Du genießt aber große Freiheiten!“ Wenn ich mich selbst nicht frei fühle, bin ich nicht frei. Ich muss meine Freiheit fühlen können. Wissen und Können ist nicht Fühlen. Es gibt viele Menschen, die viel können, viel wissen und nichts damit anfangen können, weil sie lustlos sind oder gar depressiv. Ihr Wissen und ihr Können ist ihnen nichts wert. Und dann gibt es andere, die u.U. nur wenige Begabungen und vielleicht sogar eine körperliche Behinderung haben, aber voller Lebensfreude sind, weil ihnen alles, was sie wissen und können, viel bedeutet. Das entscheidet sich im Gefühl.

Rudolf Steiner reagierte auf Ita Wegmans Frage nach der Mysterienmedizin, indem er sich entschied,

  • erstens die Anthroposophische Gesellschaft neu zu begründen,

  • zweitens eine Hochschule als Aufgabe für diese Gesellschaft zu gründen,

  • und drittens begann er in den Vorträgen über „Mysteriengestaltungen“ (GA 232) darüber zu sprechen, was die alten Mysterien wie die der Megalithkultur usw. ausmachte. Ein halbes Jahr lang, bis Ostern, hielt er immer wieder Vorträge über Einzelheiten aus der Mysterien-Geschichte.

Stiftung zahlreicher Gemeinschaften

Das Entscheidende an dieser Stelle ist jedoch nicht die Vermittlung von neuem Wissen, sondern das, was Rudolf Steiner anschließend tat: Er stiftete Gemeinschaften – Berufsgemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften (vgl. Gemeinschaft(sbildung): Einleitendes zum Thema Gemeinschaft). Aus heutiger Sicht kann man erkennen, dass er schon vorher damit anfing: Er begründete einen Lehrerkreis im Rahmen der ersten Waldorfschule, einen Priesterkreis und schuf damit die Voraussetzung zur Begründung der Christengemeinschaft.

Er berief einen esoterischen, internen Ärztekreis, bestehend aus sieben Ärzten, denen er große Schicksalsaufgaben übergab. Sie sollten sich mit den großen Mysterien und Kulturströmungen der Menschen auseinandersetzen, sprich: mit dem gesamten Menschheitsschicksal.

Darüber hinaus beriet er Ita Wegman und gab ihr wichtige Impulse: Als Leiterin der Medizinischen Sektion stiftete sie diverse Berufsgruppen, von der Heilpädagogik über die Krankenpflege zur Pharmazie und zur Kunsttherapie. Jede Berufsgruppe sollte unter sich ein geistiges Gut pflegen und sich damit anschließen an die Inspirationssphäre des Raphael.

Kriterien einer neuen Mysterienmedizin

Die neue Mysterienmedizin entsprach den folgenden wegweisenden Kritierien (vgl. Anthroposophische Medizin: Anspruch und Aufgabe):

  1. Zum einen handelt es sich um eine Medizin, die – wie Rudolf Steiner es schon im vierten Vortrag des ersten Medizinerkurses formuliert – „... das Ganze des Heiles der Menschheit im Auge hat“3 und sich nicht damit begnügt, in Gesundheits- und Krankheitsfragen nur auf den individuellen Menschen hinzublicken.
  2. Zum anderen handelt es sich dabei um Mysterien der Tat, zu denen der Mut des Heilens und der unbesiegliche Karmawille, wie Rudolf Steiner dies im Jungmedizinerkurs3 ausführte, die Richtung weisen.
  3. Die dritte Grundorientierung wird deutlich, wenn wir auf die Zusammenarbeit Rudolf Steiners mit Ita Wegman hinblicken – im gemeinsamen Schreiben des Buches „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ sowie in den vielen gemeinsamen Patientenbesprechungen: Mysterien des Willens sind zugleich auch Mysterien der Zusammenarbeit (vgl. Zusammenarbeit: Orientierung am gemeinsamen Ziel).

Die neuen Mysterien können sich nur verwirklichen, „wenn sich viele zur rechten Stunde vereinigen“. sup>4 Das Einzel-Ich ist in seiner Entwicklung so weit gekommen, dass es selbst entscheiden lernen kann und muss, welchem Wissen es sich öffnen und vor welchem es sich verschließen möchte. Anstelle von Schweigen oder Geheimhaltung haben die neuen Mysterien ein Willensziel: meditative Kraft zu konzentrieren, um stärker wirksam sein zu können.

Vgl. Vortrag von Dr. med. Michaela Glöckler am Pflegekongress 2010

  1. J. E. Zeylmans van Emmichoven, Wer war lta Wegman, Band 2, Heidelberg, 1992. Seite 216.
  2. Ebenda.
  3. Rudolf Steiner, Meditative Betrachtungen und Anleitungen zur Vertiefung der Heilkunst, 4. Vortrag, GA 316.
  4. Ebenda.
  5. J.W. Goethe, Märchen von der schönen Lilie und der grünen Schlange.