Nebenübungen als Herausforderung an den Willen
Was ist die Quelle der Freiheit des Menschen?
Welche Rolle spielen die Nebenübungen dabei?
Inwiefern helfen diese Übungen, das Herzchakra richtig auszubilden?
Wille muss von uns selbst geschult werden
Unser Denken und Fühlen wurden uns von der Schöpfung zur Verfügung gestellt, unseren Willen müssen wir jedoch selbst schulen. Das möchte ich kurz erläutern:
Die Schöpfung ist durchzogen von Weltgedanken, die ganze Weisheit der Evolution mit all ihren Gesetzen ist uns dadurch gegeben.
Und auch das Fühlen als beziehungsvolles Miteinander-in-Bewegung-Sein wie auch die Differenzierungskräfte finden sich in der Schöpfung wieder.
Aber der aus unserer Ich-Organisation freiwerdende Wille, unser Tun, ist unbestimmt.
Der Wille ist nicht festgelegt, ist reine Kraft, Energie, Handlungsvermögen. Und jeder muss sich selber dazu motivieren, sich dafür begeistern, das, was er für richtig hält, auch zu tun. Das geschieht nicht von selbst.
Seelischen Freiraum entwickeln
Der Mensch ist jener Ort der Verwandlung, an dem alle Schöpfung ein Ende fand und eine neue Schöpfung beginnt – die Entwicklung von Freiheit. Wie es in der Apokalypse geschildert wird: Es wird einen neuen Himmel und eine neue Erde geben, die alte ist vergangen. Es geht dabei auch um den Impuls der Verwandlung, dass nämlich etwas, was Natur gegeben war, sich verwandelt in etwas rein übernatürlich Seelisch-Geistiges.
Freiheit ist natur-, gott- und schöpfungsgewollt – aber wir sind es, die gefordert sind, sie zu entwickeln. Dessen müssen wir uns erst einmal bewusstwerden und dann entscheiden, wie wir mit dieser Aufgabe umgehen wollen. Die Krone der Schöpfung zu sein, bedeutet, dass ein Schöpfungsschlusspunkt erreicht wurde: Mehr kann im Menschen und auf der Erde ohne sein bewusstes Zutun nicht erreicht werden. Jeder von uns entscheidet fortan mit, wie es mit der Schöpfung weitergehen soll – mit uns, mit der Natur, mit der Erde. Die Schöpfermächte lassen uns diesbezüglich vollkommen frei.
Wenn Freiheit als neue Qualität in der Schöpfung entstehen soll als etwas, das nur durch den Menschen und seine Art der Entwicklung realisiert werden kann, dann muss es im Menschen einen Bereich geben, über den nur er allein verfügen kann. Sich diesen seelischen Freiraum bewusst zu machen und zu üben, ihn gut zu gebrauchen, scheint Hintergrund und Sinn der Nebenübungen zu sein.
Ein freies Wesen muss jeder selbst aus sich machen
Rudolf Steiner sagte, ein freies, selbstbestimmtes Wesen kann jeder nur selbst aus sich machen – weder Natur noch Gesellschaft können das. Ein jeder darf und muss es selber bewerkstelligen.
Meist sind es Zeiten der Krise, in denen wir merken: „Wenn ich mich jetzt nicht wirklich ergreife, mir selber sage, was und wer ich werden will, dann herrschen andere über mich oder ich werde krank oder rutsche völlig ab.“ Wenn wir in diesen dunklen Stunden bestehen wollen, sind wir gefordert, diesen Schritt der Selbstbestimmung zu wagen.
Das wahre Selbst ist das, was ich mir als Ideal in innerster Wahrhaftigkeit und Gewissensfreiheit selber vornehme „zu werden“. Wenn nichts mehr trägt, lernen wir, uns in uns selbst zu halten und unserem Werde-Ideal, das uns trägt, zu vertrauen.
Kurzfassung der sechs Nebenübungen
Der Schulungsweg der Anthroposophie hat seinen Ursprung und seinen Gipfel in der Verfeinerung des Herzchakras durch die bereits erwähnten sechs Übungen, die so alltäglich sind, dass Rudolf Steiner sie ‚Nebenübungen’ nannte. 1
- Drei Übungen als Arbeit an sich selbst
Bei den ersten drei Übungen geht es darum, Kontrolle über das eigene Denken, Handeln und Fühlen zu bekommen. Ich ersetze jetzt das Wort ‚Kontrolle’ durch ‚Wahrnehmung’:
1. Nimm mit dem Herzen dein Denken wahr, ob wirklich du es bist, der hier denkt.
2. Nimm mit dem Herzen deine Handlungsbereitschaft wahr, ob wirklich du es bist, der handeln will.
3. Nimm mit dem Herzen dein Fühlen wahr, ob du wirklich fühlst, was du fühlen willst, und fühlen willst, was du fühlst.
Nach Vollzug dieser heiligen Dreigliederung ist das Herz an das Denken, Handeln und Fühlen wirklich angeschlossen.
- Drei Übungen im sozialen Kontext
Mit den drei nächsten Übungen geht es ganz ins Soziale hinein:
4. Es geht als Viertes um Positivität,
5. als Fünftes um Unbefangenheit
6. und als Sechstes um das Ausbalancieren aller Übungen, also um ein inneres Gleichgewicht, mit dem Ziel, sich selbst und seiner Umwelt möglichst frei, offen, direkt, unverstellt, ehrlich und herzlich begegnen zu können.
Alle sechs Übungen zusammengenommen sind eine große Herausforderung an den Willen. Das ist der Knackpunkt, durch den sich die Sinnhaftigkeit der Nebenübungen für unser persönliches und soziales Leben zeigt. Indem wir diese Übungen machen, erleben wir unmittelbar, in welchem Maße unsere gesamte geistig-seelische Entwicklung von unserem freien Willen abhängt. Es wäre doch zu einfach, wenn wir beispielsweise an die sechs Nebenübungen denken und sie ruckzuck auch schon getan sind. Viel eher nehmen wir uns erst einmal vor, sie zu machen. Wir fangen an zu üben und bleiben dran oder hören dann doch wieder auf. Das liegt völlig an uns.
Vgl. Vortrag „Das eigene Menschsein entwickeln“, gehalten im Rudolf-Steiner-Haus?, September 2024
- Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Kap. Über einige Wirkungen der Einweihung, GA 10.