Die sechs Nebenübungen
Was ist mit den Nebenübungen gemeint?
Worauf zielen sie im Einzelnen und als Ganzes ab?
Inwiefern sind die Nebenübungen gleichzeitig Herzchakra-Übungen?
Die sechs Nebenübungen, die Rudolf Steiner uns in „Wie erlangt man Erkenntnisse der Höheren Welten?“ gegeben hat,1 sind zugleich auch „Herzchakra-Übungen“. Man bildet seinen Herz-Sinn, seine Herz-lichkeit damit aus, man wird dadurch liebefähiger. Denn es geht hier nicht nur um Selbsterziehung im Seelischen. Vielmehr wird dadurch der „Raum des Gewissens“ bewusst, in dem wir uns vor uns selbst und der geistigen Welt verantworten. Wir erleben ihn in der Herzregion.2
Die ersten drei Übungen – Arbeit an sich selbst
- 1. Übung – Gedankenkontrolle
Wer beherrscht mein Denken?
Mache ich das eigene Denken von etwas anderem abhängig oder bin ich es wirklich selber, die/der denkt?
Oder denkt es in mir?
Hier geht es um eine kleine Konzentrationsübung von fünf Minuten. Sie besteht darin, sich einen unbedeutenden Gegenstand innerlich so klar vor Augen zu stellen, dass man ein möglichst deutliches Bild von diesem Objekt bekommt und jeden einzelnen Gedankenschritt klar überschaut und „kontrolliert“.
Durch diese Übung wird man kräftiger in der eigenen Gedankenführung und merkt schneller, wenn man abschweift. Natürlich gäbe es viele Gedanken, die einen davon abhalten könnten, diese Übung zu machen. Wer aber ernsthaft damit beginnt und dann noch die anderen Übungen dazu nimmt, stellt fest: Alle zusammen sind wie ein Organismus, durch den man lernen kann, Herr/Frau über die eigenen Seelenkräfte zu werden.
- 2. Übung – Handlungskontrolle
Wer bestimmt über mein Handeln?
Wer oder was treibt mich an?
Kann ich bewusst und mit freiem Willen tun, was ich tue, indem ich mir, egal was es ist, die Sinnhaftigkeit dessen klarmache, bzw. die Verantwortung im Tun dafür voll übernehme?
Wie verhalte ich mich zu meinem Schicksal, zu dem, was auf mich zukommt?
Bei der zweiten Übung geht es um die Handlungskontrolle. Bei mir selber stelle ich bei meinem abendlichen Rückblick oft fest, dass ich vieles nicht gemacht habe, was ich mir vorgenommen hatte: Wieviel Ungeplantes ist geschehen, wo habe ich mich ablenken lassen! Habe Dinge gelesen oder angehört, die mir die Zeit genommen haben für das, was ich eigentlich tun wollte! Wenn z.B. ein unerwarteter Anruf kommt, weil jemand gestorben ist oder Hilfe braucht muss ich abwägen können:
Wem oder was gebe ich jetzt Raum?
Wie ich mich auch entscheide – es hat Konsequenzen. Im Schicksal lebe ich nicht nur durch meine Taten und Aktivitäten, sondern auch durch die Folgen meiner Taten. Und je bewusster man mit seinem Schicksal umgeht, umso freier setzt man sein Ja oder Nein. Das lernt man, wenn man über das eigene Tun und Lassen, den Willensgebrauch, meditiert, indem man sich bestimmte Übungen vornimmt, die einem helfen, im Willen wach zu werden, und sich mit dem, was man tut, wirklich zu identifizieren.
Und selbst wenn ich mir irgendeine Netflix-Serie angeschaut oder einen belanglosen Zeitungsartikel gelesen habe, kann ich mir im Nachhinein die Frage stellen:
Was kann ich daraus lernen?
Die Übungen zur Handlungskontrolle haben es in sich, denn sie wirken nicht nur auf meine eigenen Belange, sondern auf meinen ganzen Schicksalszusammenhang aus.
- 3. Übung – Gefühlskontrolle
Wie lerne ich meine Gefühle im besten Sinne des Wortes zu kontrollieren?
Die Gefühlskontrolle ist das Schwierigste, denn Gefühle sind ja nicht so bewusst handhabbar wie unser Denken, aber sie sind auch nicht so freilassend wie unser Wollen. Sie entstehen wie im Halbschlaf. Rudolf Steiner sagt dazu, dass wir im Fühlen träumen. Wenn wir von Tagträumen sprechen, meinen wir die Gefühle, die auf den Wogen des Taggeschehens auftauchen.
Für mich ist das Wort Kontrolle in dem Moment nicht mehr negativ besetzt, wenn ich mir klar mache, dass ich selbst der Kontrolleur bin.
Wie reagiere ich beispielsweise, wenn ich zufällig jemandem begegne, mit dem ich kürzlich ein Problem hatte, und ich merke, dass ein Schwall von Antipathie hochkommt?
Oder wie reagiere ich, wenn ich mich sich über ein freches, schwieriges Kind ärgere?
Man kann üben, mit solchen Gefühlswallungen bewusst umzugehen. Abends im Rückblick kann man sich fragen, wie man reagiert hat:
Wie gestalte ich einen Begegnungsmoment so, dass es in irgendeiner Weise sinnvoll ist?
Das ist bewusste Beziehungsgestaltung. Hier geht es um das Leben und die Liebe im Sozialen.
Die nächsten drei Übungen – Leben und Liebe im Sozialen
Bei der vierten, fünften und sechsten Übung geht es um das Leben und die Liebe im Sozialen. Es ist nicht die eigennützige Liebe, sondern die, die eine Erkenntniskraft ist. Wirklich verstehen kann ich einen Menschen oder eine Sache nur, wenn ich mich wirklich für diesen Menschen interessiere – und nicht in mein, in den anderen projiziertes, Ego verliebe. Da meine ich mich selbst und nicht den anderen.
- 4. Übung – Positivität
Kann ich das Positive eines Menschen oder einer Gegebenheit erkennen?
Die vierte Übung hat mit dem Erwerb von Positivität zu tun, zu üben, einen anderen Menschen oder eine Situation so objektiv in der eigenen Seele leben lassen, dass man in aller Ruhe das Positive an dem Gegenüber oder der Gegebenheit herausfinden kann. Das Negative springt uns in der Regel spontan ins Auge. Doch geht es hier darum, sich die Lichtseite und die Schattenseite einer Sache oder Person klarzumachen. Dann erst habe ich ein objektives Verhältnis zu dem, dem ich meine Aufmerksamkeit zuwende. Gerade weil im modernen Leben die Haltung des Kritisierens und Verurteilens so üblich ist, wäre es besonders wichtig, auch das Positive ins Auge zu fassen und hervorzuheben.
- 5. Übung – Unvoreingenommenheit
Die fünfte Übung hat mit der Pflege von Unbefangenheit bzw. Unvoreingenommenheit zu tun. Soziale Kompetenz entsteht durch Unvoreingenommenheit. Dabei muss man seinen Erfahrungsschatz, das Vorwissen und die eigene Macht zurückhalten und das eigene Denken zusammen mit dem eigenen Wollen derart führen, dass man den Menschen und dem Leben unbefangen begegnet.
Wir kennen aus unserem Alltag solche Situationen, in denen wir meinen zu wissen, was gleich folgt bzw. gesagt wird. Hier kann man üben, unbefangen hinzuhören und vielleicht endlich herausfinden, warum ihm oder ihr das so wichtig ist. Ein weiteres Beispiel: In meiner medizinischen Ausbildung hatte ich einen Lehrer, der uns einschärfte: „Wenn ihr eine dicke Krankenakte bekommt und Euch vorher ein Kollege am Telefon informiert, was dieser Patient alles hat, müsst ihr, wenn ihr den Patienten zum ersten Mal seht, alles vergessen, um ihm ganz offen gegenüberzutreten.“ Wenn wir nicht unbefangen sind, behindern wir uns selbst, neue Erkenntnisse zu gewinnen.
- 6. Übung – Gleichgewicht zwischen allen Übungen herstellen
Wie gehe ich mit meiner eigenen Seele, meinen Mitmenschen, mit meinen schicksalsmäßigen Erfahrungen und allem, was mich umgibt, um?
Wie ist es um meine Beziehung zu mir selbst und zu meiner Umwelt bestellt?
Habe ich meinem Umfeld und mir selbst gegenüber ein waches Bewusstsein?
Die sechste Übung besteht darin, die drei ersten Übungen und die beiden letzteren in das rechte Gleichgewicht zu bringen und so Herr bzw. Frau im eigenen Seelenhaus zu werden. Wenn man diese Übungen macht, verschärfen sich Herzenstakt und Liebefähigkeit, und, wie Rudolf Steiner sagt: „Unserem Ich werden dadurch Stärke und Sicherheit auf dem Lebensweg vermittelt“. 3
Vgl. Vortrag „Das eigene Menschsein entwickeln“, gehalten im Rudolf-Steiner-Haus?, September 2024
- Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.
- Michaela Glöckler, Das Herz als Ort des Gewissens, Wege zu geistiger und körperlicher Immunität, Akanthos Akademie, 2022.
- Rudolf Steiner, Nebenübungen, Sechs Schritte zur Selbsterziehung, Rudolf Steiner Verlag.