Gekränktes Selbstbewusstsein
Wie äußert sich ein geschwächtes Selbstbewusstsein?
Wie lässt sich die erhöhte Empfindlichkeit in Kombination mit Empathieverlust erklären?
Was sind die Ursachen und wie kann man Abhilfe schaffen?
Symptome eines schwachen Selbstbewusstseins
Wir leben heute in einer Zeit – und das können wir gar nicht genug betonen – in der das Selbstbewusstsein der meisten Menschen gekränkt und geschwächt ist. Die meisten unserer sozialen Probleme sind darauf zurückzuführen.
- Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen
Das zeigt sich beispielsweise darin, dass jemand keine Kritik ertragen kann; er wehrt sich vehement gegen das, was er als einen Angriff gegen sich empfindet, und versucht mit allen Mitteln zu beweisen, wie gut er doch ist, wie sehr er im Recht ist. Man kann dieses Phänomen die ganze Schulzeit hindurch und auch bei den Erwachsenen beobachten. Diese Empfindlichkeit bis hin zur Überempfindlichkeit ist offensichtlich nicht nur an das Alter gebunden, sondern ist eine bestimmte Zeitphysiognomie, eine Zeitsymptomatik.
- Geringe Frustrationstoleranz
Auch Kinder sind heutzutage schon sehr früh in einem viel stärkeren Maß empfindlich und empfindsam, als das noch vor zwanzig Jahren der Fall war. Wenn man z.B. als Betreuer ein Kind darauf aufmerksam macht, dass es ein Wort falsch geschrieben hat, kann es heute vorkommen, dass es einen schlägt, weil es die Frustration, mit einem Fehler konfrontiert zu werden, nicht aushält. Wir beobachten auch im kollegialen und sozialen Bereich, dass die Toleranzschwelle immer niedriger wird.
- Wachsender Empathieverlust
Das zweite Phänomen, das wir beobachten können, ist, dass Menschen anderen gegenüber zunehmend eine gewisse „Dickfelligkeit“ entwickeln, eine wachsende Respektlosigkeit, einen Verlust an Empathie. Kritik zu äußern fällt leicht, zu sagen, was einem alles nicht gefällt, aber die Wahrnehmung dessen, was in dem anderen Menschen lebt, was ihn beschäftigt, worum es ihm überhaupt geht, ist ganz schwach ausgebildet.
Man kann sagen: Der Welt gegenüber stumpfen wir ab, nehmen nicht mehr wahr, verlieren den Respekt, und uns selbst gegenüber werden wir immer empfindlicher, nehmen alles überzeichnet wahr und reagieren entsprechend.
- Wachsende Aggressionsbereitschaft
Ich darf an einen furchtbaren Unfall in Norwegen erinnern, der durch die Presse ging und der mich seither wie ein Archetyp begleitet: Ein sechsjähriger Junge schlug ein fünfjähriges Mädchen mit einem Plastikschlitten bewusstlos und ließ es im Schnee liegen, sodass es verstarb. Im Norden ging ein Aufschrei durch die Gesellschaft. Der Junge hatte sich über das Mädchen geärgert, weil sie ihn nicht mit ihrem Schlitten hatte fahren lassen. Sie hatten sich gestritten und schließlich hatte er dem Mädchen den Schlitten weggerissen und auf es eingeschlagen, damit es zu schreien aufhörte, wie er später sagte.
Die Mutter des Mädchens wurde damals gefragt, ob sie dem Jungen und seinen Eltern gegenüber Hass empfinde. Sie antwortete: „Ich kann keinen Hass empfinden, nur unendliches Mitleid, wenn ich daran denke, dass dieser Junge sein ganzes Leben mit einer solchen Schuld leben muss, die ihm niemand nehmen kann, an der er nur arbeiten kann, um sie zu verkraften.“ .
- Abhängigkeit von Anerkennung
Ein weiteres Symptom eines schwachen Selbstbewusstseins ist die Abhängigkeit von Anerkennung durch die Umwelt. Die Betreffenden machen alle möglichen Anstalten, liebenswert zu erscheinen, niemanden zu verletzen, sind immer auf der Hut. Bekommen sie nicht die gewünschte Reaktion, können sie kaum damit umgehen.
Ursachen und therapeutischer Ansatz
Die Hauptursachen liegen in der frühen Kindheit bis hin zur Vorschulzeit. Denn was hier erlebt wird, geht sehr tief, wird sozusagen noch aufgenommen in die körperliche Grundreifung des Organismus. Oft braucht es dann viele Jahre der Therapie oder des konsequenten Selbstmanagement, um die aus dieser Zeit herrührenden Schädigungen zu lindern bzw. zu heilen und ein starkes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Für den therapeutischen Umgang mit diesen Zeitphänomenen kann es sehr aufschlussreich sein, das bewusste Augenmerk auf die Anamnese im Hinblick auf die Sinnespflege und Sinneserfahrung in der frühen Kindheit zu legen. Denn es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Sinnestätigkeit und dem Selbstbewusstsein des Menschen. Diejenigen, die es schaffen, Verluste und Frustrationen zu verkraften, werden in sich stärker, spiritueller, charakterlich gefestigter – ihr Selbstbewusstsein wächst dadurch.
Ein Mensch mit einem gesunden Selbstbewusstsein wiederum kann mit Frustration und fehlender Anerkennung nüchtern umgehen. Er kann sich Kritik mit gleichsam wissenschaftlichem Interesse anhören. Er wird sich fragen, was daran berechtigt ist – dann wird er dafür dankbar sein – und was unberechtigt ist – dann lässt er sich nicht davon berühren und erkennt, dass das Problem offenbar nicht bei ihm, sondern bei seinem Kritiker liegt.
Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997