Aufbau eines gesunden Selbstbewusstseins

Was macht ein gesundes Selbstbewusstsein aus?

Wie kommt unser Ich-Bewusstsein zustande?

Schritte zu einem gesunden Selbstbewusstsein

Das bewusste Ergreifen des Ich, das mit dem Erwerb von Selbstbewusstsein Hand in Hand geht, erfolgt in drei Schritten, die ich im Folgenden näher erläutern will.

  • 1. Das Ich als Punkt, der sich auf die Welt bezieht

Unser Ich-Bewusstsein entspricht einem Punkt. Wenn es uns nicht gelingt, uns zur fokussieren, uns zu konzentrieren, sodass wir schließlich ganz bei uns sind, sind wir „zerstreut“ und nicht wirklich „da“. Das ist der eine Aspekt.

Das andere hat mit der Fülle unserer Gedanken und Bestrebungen zu tun, mit dem, was wir tun wollen und oft nicht können, weil uns dies oder jenes behindert – aber auch mit den komplexen Lebensverhältnissen eines jeden Menschen. Alles, was uns umgibt, bildet unser Umfeld. Das Wichtigste im Hinblick auf das Selbstbewusstsein ist nun, dass die Welt, in der ein Mensch lebt, in ihm einen Bezugspunkt findet, von dem aus er die Möglichkeit hat, sich mit allem in Beziehung zu setzen, ohne dabei den Bezug zu sich selbst zu verlieren.

Es ist doch ein Wunder, dass unser Selbstbewusstsein so stark ist, dass wir uns in der Fülle der Gedanken, Meinungen nicht verlieren! Das ist ein Geschenk des physischen Leibes, denn er ermöglicht uns durch seine Abgegrenztheit erst, uns als Selbst zu erleben. In den Gesetzmäßigkeiten des physischen Leibes ist die ganze Weltweisheit zusammengefasst, bis dahin, dass man sein Gleichgewicht und seinen Schwerpunkt darin findet. Aus diesem physischen Schwerpunkt heraus bildet sich wiederum der geistige Schwerpunkt: die Möglichkeit, sich selbst als Punkt in einem Umkreis zu erfassen.

  • 2. Schicksalsumkreis und Ich-Bewusstsein

Der zweite Schritt der Ich-Bewusstseinsbildung hängt mit unserem Schicksal zusammen. Auch das Schicksal kann als Kreis um den Ich-Punkt dargestellt werden. Wir sind ständig mit unserem Schicksal im Gespräch – es ist unser Partner bzw. die Sphäre, mit der wir uns verständigen müssen, um mit unserem Leben klarzukommen. Je besser es uns gelingt, uns mit unserem Schicksal zu verständigen über den Sinn und die positiven Seiten gerade auch von schwierigen Schicksalsumständen, desto stärker wird unser Ich-Bewusstsein. Es gibt ein wunderschönes Wort aus der mittelalterlichen Mystik von Angelus Silesius:1

„Ich weiß nicht, wer ich bin.
Ich weiß nicht, was ich weiß.
Ich bin ein seltsam Ding,
ein Pünktchen und ein Kreis.“

Diese Worte enthalten eine tiefe Lebensweisheit: Zur Entwicklung eines gesunden Selbstbewusstseins als Ich-Punkt gehört das Gewahr-Werden seiner selbst am Schicksalsumkreis ebenso wie die Fähigkeit, mit dem eigenen Schicksal im Gespräch zu bleiben. Nur so kann man die Entwicklungschancen erkennen, die das Schicksal bietet. Diese beiden Aspekte müssen kreativ und unternehmerisch so miteinander in Verbindung gebracht werden, dass eine Entwicklungsspur entsteht, die zu verfolgen sich lohnt im Rahmen der aktuellen Biografie (vgl. Schicksal und Karma: Macht im Schicksalszusammenhang).

  • 3. Unser wahres Wesen, die Persona, das Ich

Die dritte Komponente unseres Selbstbewusstseins ist die Persona, unser wahres Wesen, das hindurchtönt durch den Leib: die Art, wie man denkt, fühlt und handelt (vgl. Identität und Ich: Das Ich als Kern der Persönlichkeit). Das bildet die Ausstrahlung eines Menschen. Das vollkommen freie Ich hat nun zwei Instrumente:

  • den Leib als Träger des Ich-Bewusstseins
  • und das Schicksal als Träger der Entwicklungsmöglichkeiten.

Alles Gute wie auch alles Problematische an unserem Tun schreibt sich dem Astralleib, dem Ätherleib und dem physischen Leib ein. Unsere Wesensglieder sind gleichsam das Briefpapier, auf das wir schreiben, oder der Malblock, auf den wir zeichnen. Unser Ich, das ICH-BIN-Wesen in uns, dagegen hat den Sündenfall nicht mitgemacht. Es ist rein und frei von Schuld, ist unschuldig im besten Sinn des Wortes. Die Christus-Worte im Evangelium, „ICH BIN der Weg, die Wahrheit, das Leben“2 treffen auch auf unser wahres Ich zu. Es ist reine Liebe, reines Licht.

Alle Tugenden, auch die männlichen Tugenden der Tatkraft, des Mutes, der Kraft, der Klarheit und der Orientierung, sind Ausdrucksformen des Ich, das weder männlich noch weiblich ist. Das Ich kann durch einen männlichen Körper andere persönliche Eigenschaften entwickeln und ausstrahlen als durch einen weiblichen Körper, andere in China als in Peru. Das hängt auch davon ab, was einem der Umkreis zu tun gestattet. Manche Möglichkeiten der Verwirklichung des Ich nimmt man mit ins Grab, weil man sie gar nicht realisieren konnte: Es gab keine entsprechenden Fragen, keinen Partner, keine Schicksalsresonanz. Dann bleibt man mit manchen Themen allein und hebt sie für ein späteres Leben auf (vgl. Bewusst altern: Zukunftssaat gewinnen im Alter).

Vgl. Vortrag bei der Welterziehertagung in Dornach, April 2012

  1. Angelus Silesius, Der Cherubinische Wandersmann. U.a. Zürich 1979. Erstes Buch, Geistreiche Sinn- und Schlussreime, Nr. 5.
  2. Neues Testament, Johannes 14, 6.