Körperorientierte Sinne

Welches sind unsere körperorientierten Sinne?

Welche Möglichkeiten der Pflege und der Schädigung gibt es?

Die unteren Sinne

Die ersten vier Sinne, auch untere Sinne genannt, sind stark mit dem Körper und seinen Funktionen verknüpft. Die Wahrnehmung ist stark körperabhängig.

  • 1. Der Tastsinn

Der wichtigste Sinn, vor allem in der ersten Lebenszeit, ist der Tastsinn (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Tastsinn). Sein Organ ist die Gesamtheit der inneren und äußeren Haut.

Welche Art von Selbsterfahrung verdanken wir dem Sinn, der uns unsere Körperperipherie bewusst macht?

Der die Grenzbestimmung des Leibes schlechthin ist?

Durch den wir uns überhaupt erst als ein von der Umwelt abgegrenztes Selbst erleben können?

Der Tastsinn ist die Grundlage für unser Selbstbewusstsein. Denn solange man nicht spürt, dass man Grenzen hat, kann man sich nicht als autonomes Selbst erkennen. Wenn ich z.B. meine Handflächen aneinander lege, kommt es bei mir zu einer verstärkten Selbstwahrnehmung. Solange ich mich nicht berühre, bin ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei Ihnen und habe nur eine sehr geringe Selbstwahrnehmung. Indem ich mich aber selbst anfasse, spüre ich mich selbst stärker und ziehe sofort meine Aufmerksamkeit von Ihnen ab. Der Tastsinn verstärkt die Selbstwahrnehmung, ermöglicht uns aber auch das unglaublich schöne Erlebnis, mit den Füßen den Boden zu ertasten und zu erfahren, dass der Boden uns stützt.

Der Tastsinn vermittelt uns: Ich werde getragen, werde gestützt, bin geborgen. Ich habe eine Umwelt, die mich aufnimmt. Ich bin zwar isoliert innerhalb meiner Grenzen, aber ich bin zugleich auch geborgen. Ich bin als ein einzelnes Wesen aufgenommen in ein Ganzes. Das Gefühl, das aus dieser Selbsterfahrung durch den Tastsinn resultiert, ist Vertrauen in das Selbst, in die Existenz, in das Dasein, in die Existenzerfahrung schlechthin.

Wenn mit dieser Tasterfahrung, wie im Falle der Kindsmisshandlung oder des sexuellen Missbrauchs, Unrechtserlebnisse und Grenzüberschreitungen zustande kommen, wird die Selbsterfahrung empfindlich gestört, sodass das Kind das, was es erlebt, tief ablehnen muss und kein Vertrauen daran entwickeln kann. Das führt bei der Entwicklung des späteren Selbstbewusstseins zu Uneinigkeit mit sich selbst und tiefer Verunsicherung.

Zur Pflege dieses Sinnes ist es wichtig, dass ein ausgewogenes Verhältnis hergestellt wird zwischen Geborgenheit und das Sich-selbst-überlassen-Sein. Wenn ich Kinder zu lange nur mit mir herum trage, haben sie es später schwerer, die für die Selbstständigkeit nötigen Einsamkeitserlebnisse zu machen. Wenn ich das Kind zu früh sich selbst überlasse, wird es sich ungeborgen fühlen. Ich muss also wechseln in einem möglichst angenehmen Rhythmus, damit das Neue sich immer angenehm erfrischend und belebend auf das erwachende Selbstbewusstsein auswirkt.

  • 2. Der Lebenssinn

Der Lebens- oder Vitalitätssinn ist ebenfalls ganz stark mit dem Körper verbunden durch sein Organ, das vegetative Nervensystem (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Lebenssinn). Es nimmt wahr, wie die Organe im Organismus zusammenarbeiten. Arbeiten sie harmonisch zusammen, ist das Erleben von körperlicher Harmonie und Übereinstimmung die Folge, körperliches Wohlbefinden. Arbeiten die Organe unregelmäßig oder liegt Hunger vor oder irgendein Mangel, dann meldet der Lebenssinn Unbehagen, Disharmonie, fehlende Übereinstimmung im Körper. Zur Pflege dieses Sinnes, die außerordentlich wichtig ist, sollte auf einen guten Wechsel zwischen Hunger und Sättigung geachtet und weder das eine noch das andere übertrieben werden.

Durch den Lebenssinn kann der Mensch auf tiefgreifende Weise Harmonie erleben. So wie ihm durch den Tastsinn die Tatsache seiner Existenz erlebbar wird, so erlebt er durch den Lebenssinn, dass er eine in sich stimmige und harmonisch zusammenstimmende Ganzheit ist. Auch dieser Sinn hat eine weitreichende soziale Komponente. Der Lebenssinn hat nicht nur mit dem körperlichen Harmonieempfinden zu tun. Das Kind nimmt durch die tiefe körperliche Wahrnehmungsfähigkeit des Lebenssinns auch alle Unstimmigkeiten und Disharmonien in der Umgebung wahr. Ist der Lebenssinn nur mangelhaft entwickelt, leidet der Betroffene daran, nur mangelhaft mit sich und der Welt in Übereinstimmung kommen zu können. Je regelmäßiger und besser aufeinander abgestimmt der Tagesablauf ist, je harmonischer die Menschen im Umfeld des Kindes zusammenarbeiten und die Vorgänge ineinander greifen, umso aufbauender wirkt sich das auf die Selbsterfahrung des Kindes aus.

Menschen, die von klein auf einen gut entwickelten Lebenssinn haben, bei denen ein gesundes Harmonieempfinden Teil ihres Selbstbewusstseins ist, können später in Bereichen arbeiten, in denen es um Ausgleich und Heilung geht. Sie haben die Fähigkeit, für ausgewogene Verhältnisse zu sorgen, haben einen feinen Sinn dafür, wo etwas fehlt und wie es ergänzt werden kann. Ärzte und Therapeuten brauchen einen gut entwickelten Lebenssinn. Wenn sie ihn nicht haben, müssen sie ihn entwickeln, um therapeutisch arbeiten zu können. Das Schöne ist ja, dass man durch Selbsterziehung vieles nachreifen lassen kann, was in der Entwicklung verabsäumt wurde.

  • 3. Der Bewegungssinn

Der so genannte Bewegungssinn ist auch noch stark körperorientiert (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Bewegungssinn). Er stützt sich als Eigenbewegungssinn auf die Muskelspindeln, die Rezeptoren in den Muskeln. Mit ihm kann man die Qualität einer Bewegung im Raum unmittelbar wahrnehmen.

Der Bewegungssinn bildet die Grundlage für die Ausbildung dessen, was später unser Freiheitssinn ist, ist die körperliche Verankerung dafür. Er ermöglicht die Erfahrung, dass der Mensch ein freies Wesen ist. Freiheit ist mehr als ein Wort. Bei der Beschreibung des Gelenksstatus spricht man von Freiheitsgraden, je nach Ausmaß der Beweglichkeit, ob es sich um ein Kugelgelenk oder um ein Scharniergelenk handelt. Schon Krabbelkinder gehen mit einem unbändigen Freiheits- und Untersuchungsdrang auf alles und jedes zu und reagieren total frustriert, wenn die Erwachsenen sie wegziehen, weil sie an irgendetwas geraten sind, das sie kaputt machen könnten. An ihrer Reaktion lässt sich ablesen, wie sehr sich das Durchkreuzen des freien Bewegungsimpulses des Kindes auf sein Selbstbewusstsein auswirkt.

Wenn man heute Anamnesen der frühen Kindheit macht, zeigt sich oft ein großer Mangel an Sinneserfahrungen. Man muss aufpassen, dass man Eltern nicht zu sehr verstört, wenn die Nachfrage ergibt, dass enorme Defizite in Bezug auf die Lebenssinn- und Bewegungssinnpflege vorliegen. Vieles, was später an Zwanghaftem auftaucht, aber auch der Umstand, dass jemand nichts Rechtes mit sich anzufangen weiß, sind auf solche Defizite zurückzuführen, weil sich das Freiheitsgefühl nie richtig entwickeln konnte und die Betroffenen nie wirklich erleben durften: „Ich kann, was ich will“. Es erfordert im späteren Leben viel Arbeit an sich selbst, diesen Sinn nachreifen zu lassen.

  • 4. Der Gleichgewichtssinn

Das Organ für den Gleichgewichtssinn liegt im Innenohr und hat die Aufgabe, die Lage im Raum zu bestimmen (vgl. Sinne(spflege): Grundlegendes zum Gleichgewichtssinn). Darüber hinaus ermöglicht der Gleichgewichtssinn die Erfahrung, dass es bei allen Bewegungen und Lageveränderungen im Raum auch einen Ruhepunkt gibt, in dem Gleichgewicht herrscht und von dem aus Veränderungen wahrgenommen werden können. Diese wichtige Selbsterfahrungskomponente bildet die Grundlage dafür, dass der Mensch später ein meditatives Leben führen kann oder jemanden anderen zur Ruhe zu bringen oder in Hypnose zu versetzen vermag.

Kindern, die mit Stelzen laufen, wippen oder balancieren, oder auf Rillen zwischen den Pflastersteinen zu laufen versuchen, merkt man einen instinktiven Drang an, den Gleichgewichtssinn auszubilden. Sie wollen den Schwerpunkt finden, den Mittelpunkt des körperlichen Selbstbewusstseins. Sie machen beim Üben die Erfahrung: „Ich kann meinen Körper im Ruhepunkt halten, ich bin in mir zentriert.“ Menschen, die ständig die Tendenz haben, ihre Sinne zu stimulieren, vermeiden genau diese Erfahrung, die sie nicht kennen, vor der sie Angst haben wie vor einem Abgrund. Vieles an dieser Nervosität und Unruhe, an dem Drang sich ständig irgendwelchen Pseudobeschäftigungen auszusetzen, kommt daher, dass Kinder heutzutage immer weniger Möglichkeiten haben, den Gleichgewichtssinn ausgiebig zu schulen, insbesondere in den ersten drei Jahren, aber leider auch in Kindergarten und Schule.

Mit den unteren Sinnen verbundene Fähigkeiten

Die vier besprochenen körperorientierten Sinne sind die Grundlage für Eigenschaften, die sehr hohe spirituelle Qualitäten darstellen (vgl. Sinne(spflege): Zwölf Qualitäten der Selbsterfahrung):

  • Existenzvertrauen,

  • Harmonie, Einklang mit dem Kosmos des eigenen Leibes, aber auch mit der Umwelt,

  • Freiheitsfähigkeit

  • und innere Ruhe.

Das sind potenzielle Fähigkeiten des Ich, derer man sich bewusst werden muss, um sie bewusst verstärken zu können. Je mehr man von sich weiß, je tiefer man diese Eigenschaften in sich erlebt, umso stärker wird das eigene Selbst-Gefühl. Durch Sinnesschulung kann man eine Selbst-Stärkung erreichen, die weit über ein „gutes“ Selbstbewusstsein hinausgeht.

Vgl. Vortrag „Bewusstsein, Wahrnehmung und Nervensystem“, Meersburg, 09.11.1997