Traumatherapie als moderner Weg zur wahren Identität

Inwiefern verhilft Trauma dem Menschen zu seiner wahren Identität?

Was ist unter der wahren Identität zu verstehen?

Das Trauma der Individualisierung

An dieser Stelle möchte ich den Bogen spannen zwischen den Uranfängen der Menschheit und ihren zukünftigen Entwicklungszielen (vgl. Menschheitsentwicklung: Die sieben Kulturepochen). Das Ur-Trauma der Menschheit ist die Individualisierung, die Entdeckung des Eigenwillens, die mit dem Sündenfall ihren Anfang nahm, gefolgt von der Vertreibung aus dem Paradies.

Seit der Neuzeit befindet sich die Menschen weltweit in einem verstärkten Individualisierungsprozess (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung und Einsamkeit), in Zuge dessen sie früher oder später aus kollektiven Werte-Zusammenhängen, aus dem Familienverband, aus der Nestwärme sozialer Verbindungen herausfallen – entweder aus eigenem Entschluss oder aber durch oft schmerzliche Erfahrungen, die sie regelrecht aus dem Bisherigen heraus „kicken“. Dazu gehören auch alle traumatischen Erfahrungen. Im großen Zusammenhang begriffen sind sie nötige Geburtswehen für einen Prozess, der sich nicht aufhalten lässt: Wir müssen hinausgeworfen werden aus dem Paradies!

Man kann sagen, der Sündenfall ist heute auf der Bewusstseinsebene angekommen. Wir müssen in ein neues Bewusstsein erwachen – DAS erleben wir als traumatisch. Das Trauma ist nur Werkzeug für einen nötigen Prozess. So hart das klingen mag: Wer nicht freiwillig im Rahmen einer Selbstschulung durch Todesprozesse zu gehen lernt, wird, sofern es sein oder ihr Schicksal ist, in dieser Inkarnation an die Schwelle der Einweihung zu kommen, durch Trauma, Krankheit und Not dahin geführt (vgl. Selbsterkenntnis und Selbsterziehung: Selbstschulung gegen Angst).

Trauma als Initiation

Inwiefern lassen sich traumatische Erfahrungen als Initiationserfahrungen auffassen?

„Initiare“ heißt anfangen – es geht nicht um das Ende oder etwas Endgültiges, sondern um einen Anfang, sprich: um den Punkt, an dem der Mensch sich zum ersten Mal wirklich selbst begegnet. Eine solche Selbstbegegnung wird auch durch ein Trauma hervorgerufen, durch eine Art Trennungserlebnis, durch das der oder die Betreffende ganz auf sich selbst zurückgeworfen ist. Die traumatische Situation bewirkt, dass man sich wie „am Ende“ fühlt und begreift, dass nichts mehr sein wird wie früher. So schmerzlich diese Erkenntnis sein kann, sie bietet auch die Chance, gerade dadurch einen neuen Anfang zu setzen für ein ganz neues zweites Leben – im christlichen Kontext oft „zweite Geburt“ genannt (vgl. Biographiearbeit: Die zweite Geburt in der Biografie). Gelingt es den Betroffenen – aus sich heraus oder mit therapeutischer Hilfe – dieses traumatische Erlebnis umzudeuten als Geburtsschmerz im Zusammenhang mit der Seelen- und Geistgeburt, ist das ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Heilung.

Am Schmerz erwachen

Schmerz im Sinnendasein lockert das Geistig-Seelische: Wo etwas physisch zerbricht, wird das Geistig-Seelische frei. Damit beginnt ein neues Leben. Alles, was ab diesem Zeitpunkt geschieht, steht im Zeichen des „Trotzdem-ja-zum-Leben-Sagens“, wie Viktor Frankl es in seinem berühmten Werk nennt.1 Dazu kann sich jeder und jede nur selbst ermächtigen. Auf die Frage – „Warum bist du damals nicht untergegangen, sondern konntest weitermachen?“ – würde die Antwort lauten: „Weil ich an diesem absoluten Nullpunkt meine Freiheit entdeckt habe, alles, was fortan in meiner Entwicklung geschieht, selbst zu verantworten.“

Die Geburt des wahren Selbst lässt sich nicht herleitet aus Familie, Herkunft, bürgerlicher Erziehung, sozialer Anerkennung, gesellschaftlicher Akzeptanz, einem tollen Job, einer guten Partnerschaft. Das sind lauter Identifikationsflächen von außen. Den zu sich selbst Erwachten wurde dieses Außen so total genommen, dass sie zum ersten Mal die Chance verspürten, ganz aus sich heraus weiterzuleben und ihr Außen aus diesem Bewusstsein heraus selbst zu gestalten.

Entwicklungsbogen verstehen lernen

Im Gespräch mit Patienten, kann man nur von diesen initiatorischen Aspekten sprechen, wenn sie danach fragen. Aber als Therapeuten, die aus der Anthroposophie heraus arbeiten wollen, brauchen wir ein großes umfassendes Schicksalsverständnis. Wir müssen verstehen, dass die erste Menschenschöpfung den Menschen als „sehr gut“ vorausgedacht hatte, und dass wir im Schutze der göttlichen Begleitung, die ebenfalls „sehr gut“ und total zuverlässig ist, lernen dürfen, den Entwicklungsweg, der mit dem Sündenfall beginnt, mit uns selbst und unseren Mitbrüdern und Mitschwestern durch alle Höhen und Tiefen des Lebens zu gehen, sodass am Ende der Zeit möglichst jeder „sehr gut“ geworden ist und zu sich sagen kann: Mir haben zwar viele geholfen, aber einiges habe ich selbst auch „sehr gut“ gemacht. Damit wäre unsere Identitätsfindung vollendet.

Identitätsstiftende Zusammenarbeit

Ich hoffe, dass diese Gedanken, die sehr fragmentarisch sind, dazu beitragen werden in den kommenden Jahren eine fundierte anthroposophische Traumatherapie zu entwickeln, zu der Ärzte, Kinderärzte, Psychologen, Biografiearbeiter, Kunsttherapeuten, Pädagogen ihren Beitrag leisten (vgl. Biographiearbeit: Was anthroposophische Biografiearbeit vermag). Ich habe den Eindruck, dass dieser Therapiebereich wie kein anderer die Initiationswissenschaft braucht, um zufriedenstellende Ergebnisse zu erzielen.

Vgl. Vortrag „Traumatherapie als Instrument gesunder Identitätsbildung“, Dornach am 10. Januar 2010

  1. Viktor E. Frankl,... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.