Altern im Licht der Metamorphose der Wesensglieder

Was ist mit Evolution und Involution des Menschen gemeint und wie hängen diese polaren Entwicklungsdynamiken zusammen?

Welche Aufgabe bzw. Kompetenzen haben die Wesensglieder im Zuge der Evolution bzw. der Involution?

Inwiefern ist die Involution eines Menschen ein Spiegel seiner Evolution?

In welcher Form werden die Wachstumskräfte des Ätherleibes bzw. die Differenzierungskräfte des Astralleibes sowie die Integrationskräfte des Ich im Zuge der Entwicklung wieder freigesetzt?

Die Wesensglieder in ihrer Bedeutung für unsere Entwicklung

Altwerden ist keine Krankheit, genauso wenig wie Schwanger-Sein. In beiden Fällen können jedoch Komplikationen und Schwierigkeiten auftreten, die dann behandlungsbedürftig sind. Rudolf Steiner sagt: Die Involutionsphasen spiegeln die Inkarnations- oder Evolutionsphasen.

  • Die Evolution eines Menschen ist der Ausdruck des sich inkarnierenden Geistkeimes durch unsere Wesensglieder in den dreigliedrigen physischen Leib.

  • Die Involution bezeichnet den Prozess der Exkarnation bzw. des zunehmenden leibfrei Werdens dieser Wesensglieder.

Diese Spiegelung lässt sich gut beobachten, wenn man um die Metamorphose der Wesensglieder weiß. Die Metamorphose der Wachstumskräfte in Denkfähigkeit als Ausdruck der Doppelnatur der Wesensglieder war für mich seit meiner Studienzeit das Waldorfparadigma schlechthin.

Vorab ein paar Worte zu den Wesensgliedern (vgl. Wesensglieder: Grundlegendes zum Thema Wesensglieder). Sie bauen auf der einen Seite den Körper auf, geben ihm auf der physischen Ebene Struktur, differenzieren ihn aus auf der ätherisch-astralen Ebene und wirken integrierend über die Ich-Organisation:

  • das Ich wirkt integrierend
  • das Astrale wirkt polarisierend
  • das Ätherische wirkt aufbauend

Das ist die eine Geste.

Zusammenhang von Lebenskraft in Denkvermögen

Die andere Geste drückt sich über die schrittweisen „Geburten“ der Wesensglieder aus. Sie kann mit dem Paradigma der Metamorphose der Wesensglieder sehr gut erklärt werden (vgl. Wesensglieder: Die Metamorphose der Wesensglieder in leibfreies Denken, Fühlen Und Wollen). Im ersten Kapitel von „Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst“ 1 sind drei Absätze diesem Paradigma gewidmet. Dort heisst es sinngemäß ohne jegliche Einleitung: „Es ist von größter Bedeutung zu wissen, dass die Wachstumskräfte des Lebensorganismus dieselben Kräfte sind, die der Mensch zum normalen Denken braucht.“

Diesen Zusammenhang müssen wir begreifen lernen. Das Denken ist eine Lebensmöglichkeit, die dem Menschen zur Verfügung steht, die wir den leibfrei gewordenen Ätherkräften verdanken. Steiner meint mit „normalem Denken“ die ganze Palette der sogenannten normalen Gedankentätigkeit. Es gibt unterschiedliche Begriffe für den Verstand und unterschiedliche Ebenen von Bewusstsein und Wissen. In Steiners Konzept von der Metamorphose der Wachstumskräfte sind alle enthalten.

Wenn ich davon ausgehe, dass es einen Pool gibt für das Denken, muss ich auch das Steiner‘sche Paradigma damit in Übereinstimmung bringen. Ich kann also nur eine Theorie des Denkens entwickeln, indem ich davon ausgehe, dass die Denktätigkeit der Lebenstätigkeit entspricht, dass dieselben Kräfte in zwei unterschiedlichen Ausprägungen wirksam sind (vgl. Doppelnatur des Ätherischen: Wachstums- und Gedankenkraft):

  • Die Lebenstätigkeit (Wachstum, Formgebung, Regeneration) verdanken wir der unbewussten Ätherkraft, die im Körper als leibgebundene, biologische Intelligenz wirksam ist, die wir nur von außen beobachten können.

  • Die Denktätigkeit verdanken wir der bewussten Ätherkraft, die uns als leibfreie Kompetenz zur Verfügung steht und zu der wir nur von innen Zugang haben. Jeder kann seine Gedanken nur selbst beobachten, das kann niemand sonst für ihn tun.

Die schrittweisen Geburten der Wesensglieder

Nun zu den Geburten der Wesensglieder in Jahrsiebten. Eine Geburt bedeutet grundsätzlich das Heraustreten aus einem Körper:

  • Der physische Leib wird aus dem Uterus der Mutter heraus geboren.

  • Der physische Leib des Kindes bildet ab da den Uterus für die schrittweise Geburt des Ätherleibes bis Ende des 1. Jahrsiebtes.

  • Aus dem Ätherischen heraus werden schrittweise die Kräfte für die seelische Aktivität des Astralleibes Ende des 2. Jahrsiebtes geboren.

  • Das Astralische bietet schließlich die Hülle, aus der heraus das Ich bis Ende des 3. Jahrsiebtes seine Kraft entfaltet.

So beschreibt Steiner diesen Vorgang, der sich im Zuge der Inkarnation vollzieht. Das ist das einzige Paradigma, das Steiner uns für die Anthroposophische Medizin gegeben hat, um egal welche psychosomatische Verbindung, aber auch die Herausforderungen rund um den Alterungsprozess zu begreifen.

Die Diastase als Exkarnationsmoment

Durch welches Tor verlassen nun diese Kräfte den physischen Leib?

Das Herz ist der Ort, an dem die leibgebundenen Ätherkräfte den Leib verlassen (vgl. Waldorfpädagogik: Die fünf Ebenen des Menschseins). Denn das Herz ist der einzige Ort im Körper, wo das Blut für Bruchteile von Sekunden stillsteht. In dem Moment, wo Wasser zum Stillstand kommt, zieht sich das Ätherische heraus, es verliert seine Lebendigkeit.

In der Medizin wird dieser Moment des Stillstands am Ende der Diastole „Diastase“ genannt. Das Blut steht still, dann kommt der erste Herzton, die Muskulatur des Herzens schwingt um den nicht komprimierbaren stillstehenden Blutinhalt – dadurch kommt erneut Bewegung hinein: Das Blut wird wieder ausgeworfen in die großen Körperarterien, in den Körper- und Lungenkreislauf.

Alle Aufbaukräfte aus den Wesensgliedern, die der Evolution dienen, werden, nachdem sie ihre Arbeit im Körper getan haben, wieder leibfrei und dienen jetzt der Involution. Sie verschwinden nicht einfach, sondern durchlaufen eine Metamorphose und stehen uns dann als unser leibfreies seelisch-geistiges Potential zur Verfügung. Doch wie bereits angedeutet entstammen sie, je nach unserem Entwicklungsalter, schwerpunktmäßig anderen Funktionssystemen unseres physischen Leibes.

Das Freiwerden von Ätherkräften als kontinuierlicher Prozess

Rudolf Steiner sagt, dass auch die höheren Kompetenzen, das Astralische und das Ich – man könnte auch sagen, das Emotionale und die willensgebundenen sozialen Fähigkeiten – sich lebenslang aus dem Physischen befreien. Sie vermögen das allerdings nur «auf den Flügeln des Ätherischen», nicht aus eigenem Antrieb, da sie nicht in Zeit und Raum leben. Sie sind vollkommen übersinnlicher Natur. Das Ätherische als unser Zeitenleib, der uns in die Zeit einbettet, ist mit der Zeit verbunden. Der physische Körper beheimatet uns im Raum.

  • Beim kleinen Kind arbeiten die meisten ätherischen Kräfte im Körper und nur wenig ätherisches Potential frei ist für das Denken.

  • In der Lebensmitte sind die ätherischen Kräfte von Körper und Geist im Gleichgewicht. Wir befinden uns körperlich-geistig in einem ausgewogenen Zustand.

  • Beim alten Menschen ist es genau umgekehrt. Da hält nur noch ein müder Rest von Ätherkräften den Körper zusammen, oft fühlen wir uns auch schon schwächer, da unsere nächtliche Regenerationskraft nachlässt. Das bedeutet, dass die bisher dafür benötigten Ätherkräfte jetzt freigesetzt werden, um unser Denken zu verlebendigen und zu erweitern. Wenn wir Glück haben und unser Gehirn noch reflektieren kann, kommen wir und andere nun in den Genuss unserer Weisheit. Andernfalls profitieren die Engel davon.

  • Im Sterben werden schließlich die letzten an den Körper gebundenen ätherischen Kräfte frei. Sie sind es auch, die allen außerkörperlichen Nahtoderfahrungen zugrunde liegen, da sich der ätherische Leib durch Schock herauslöst – aber wieder zurückkehrt. Das gänzliche Herauslösen des Ätherleibes aus dem Physischen wird oft auch als Geistgeburt bezeichnet.

Vgl. Kapitel „Zusammenhänge der menschlichen Denktätigkeit“, Elternsprechstunde, Verlag Urachhaus, Stuttgart