Wie Lebensfreude im Alter Früchte trägt

Wie gelingt ein freudevolles Älterwerden?

Was können Eltern für ihre Kinder tun im Sinne einer salutogenetischen Prophylaxe gegen Altersbeschwerden?

Was kann man in späteren Jahren selber tun, um Traumatisierungen und Defizite aus der Kindheit zu überschreiben?

Pädagogischen Weitblick entwickeln

Ein freudevolles Älterwerden gelingt, wenn man die Chance genutzt hat, im Laufe des Lebens, aber besonders in jungen Jahren, Lebensfreude zu entwickeln.

Ich schrieb vor Kurzem das Buch „Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung“.1 Ich versuchte dort darzustellen, wie die Umwelt geartet sein sollte, dass Kinder Vertrauen in die Welt und in das Leben entwickeln können (vgl. Freude: Wie aus Liebe Freude wird). Mein Hauptanliegen war immer, gemeinsam mit Pädagogen – und sei es in der Schule – ein entwicklungsfreundliches Umfeld zu erschaffen, auch für Kinder, die das in ihrem häuslichen Umfeld nicht erleben konnten. Deshalb bin ich auch Kinderärztin geworden.

Die sensomotorische Entwicklung von Kindern, die Daseinsfreude, Lebensfreude und Freude an den Dingen haben, denen Eigenaktivität ermöglicht wird, vollzieht sich völlig anders als von denjenigen, die vernachlässigt, übergangen, nicht ernst genommen und traumatisiert oder aber verwöhnt und unselbständig erzogen werden, weil alles für sie gemacht wird. Es liegt an uns Erwachsenen, das Umfeld von Kindern so zu gestalten, dass sie Urvertrauen entwickeln und ihre urtümliche Daseinsfreude behalten und vertiefen können und dabei gleichzeitig Eigenständigkeit und Selbstverantwortung entwickeln.

Eltern, aber auch andere Pädagogen, dürfen diesen Weitblick pflegen, dass die Freude, die sie ihren Kindern ermöglichen, Auswirken auf das Älterwerden der Kinder hat, wenn die Eltern vielleicht gar nicht mehr im physischen Körper anwesend sind. Das erfordert einen weiten, selbstlosen Blick auf die uns anvertrauten Kinder.

Positives und Negatives in Kraftquellen verwandeln

Hatte man nicht das Glück, eine freudvolle, unbeschwerte Kindheit voller Wärme und Geborgenheit zu genießen, kann man selbst in späteren Jahren die daraus resultierenden Probleme, wie eine deprimierte Grundstimmung, überwinden lernen. Man kann Traumata und posttraumatische Belastungen verarbeiten, indem man sie als Tor ins eigene Innere nützt.

Wir Menschen fühlen uns durch schöne Erlebnisse gestärkt, während wir uns durch schmerzliche Erlebnisse wie geschlagen, abgestraft und „von allen guten Geistern verlassen“ fühlen. Die sogenannten negativen Erfahrungen wecken uns jedoch auf, indem sie uns existentielle Fragen stellen lassen und so in einem zweiten Schritt zu einer Kraftquelle werden können:

Warum ist dieses Ereignis passiert?

Warum ist es gerade mir zugestoßen?

Wie hätte man es verhindern können?

Was habe ich dadurch gelernt?

Solche Fragen können den Anfang einer Reise zu sich selbst markieren und wertvolle Selbsterkenntnis-Prozesse anstoßen. Insofern können ALLE Lebenserfahrungen zu Quellen für Kraft und Weisheit, ja sogar neuer Lebensfreude, werden.

Persönlicher Umgang mit frühkindlicher Traumatisierung

Ich bin mit einer doppelseitigen Hüftluxation auf die Welt gekommen, die zu spät entdeckt wurde, was mir im Alter von zwei bis vier Jahren zahlreiche Operationen und damit einhergehende Narkoseerlebnisse einbrachte. Die Narkosen habe ich ausnahmslos als Todesmomente erlebte, weshalb ich auch in späteren Jahren immer Todesangst bekam, wenn mir irgendetwas zu nahekam. Gleichzeitig wuchs ich in dem trotz unserer Armut schönen, menschenwürdigen Umfeld meines christlichen Elternhauses auf. Wir bekamen viel Zuwendung, durften dabei aber auch Eigenständigkeit entwickeln, weil ich die Freiheit hatte zu tun, was immer ich wollte.

Im Rückblick weiß ich, dass ich durch diesen Kontrast aus frühkindlicher Traumatisierung und schönem Elternhaus meine frühen Fragen über den Sinn von Tod und Zerstörung, von Krieg, den Atombomben und dem Holocaust verdanke – verstärkt sicher auch dadurch, dass ich direkt nach dem 2. Weltkrieg auf die Welt gekommen bin und all diese Destruktivität förmlich aufsog.

Die Frage nach dem Sinn des Bösen trieb mich mit 15/16 Jahren schon dermaßen um, dass ich bereits in diesem Alter zur Anthroposophie kam und den Sinn des Bösen in der Tiefe zu verstehen lernte. Rudolf Steiner war der Einzige, der für mich eine befriedigende Antwort darauf hatte: dass Freiheit und wahre Liebe nur im Schatten des Dunklen entwickelt werden können. Wenn man von Natur aus oder gezwungenermaßen liebt, so ist das keine freie Tat. Freiheit lässt sich nur in der Konfrontation mit Zwang, der dem Unfreien und Bösen geschuldet ist, erwerben (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Unvermeidliche Auseinandersetzung mit dem Bösen ).

Böses als Hinweis auf das Gute benützen

Deshalb muss das Böse existieren, nicht, dass man es tut, selbst wenn alle anderen korrupt sind, wenn sie stehlen und betrügen, dass man es ihnen nachahmt – nein! Es geht einzig und allein darum, dass man daran aufwacht für das Gute (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Wirklichkeit und Notwendigkeit des Bösen). Nur im Umfeld des Bösen lernen wir durch den Kontrast verstehen, was die Bedingungen sind für das Gute, das Schöne und das Wahre – im Gegensatz zum Destruktiven, Hässlichen und Verlogenen. Alles, was uns die Freude raubt, kommt von Letzterem.

Will man sich aus dem zwingenden Einfluss selbst erlebter Traumata befreien, muss man lernen, eigenaktiv, durch Selbsterziehung positive Eindrücke aufzusuchen, um das erlebte Negative wie zu überschreiben. Das gelingt am besten mit den Mitteln der Kunst oder durch Beobachtung der Natur, wo alles in der Balance wäre, wenn der Mensch nicht störend eingegriffen hätte. Wir dürfen erneut lernen, dass die Welt im Grunde gut, schön und wahr ist. Darüber kann und darf man sich zutiefst freuen – was mir zu einer Quelle des Trostes wurde.

Ich begann deshalb schon in jungen Jahren das Schöne zu bewundern, zu bestärken und zu suchen, auch im Mitmenschlichen. Es wurde mir zu einem tiefen Anliegen, dass Beziehungen und das Leben schön werden, dass das Verlogene, das uns überall umgibt, überwunden werden kann. Diese Art des Umgangs mit dem Bösen und Verlogenen, es als einen Hinweis auf das Gute und Wahre zu nutzen und es so gewissermaßen zu besiegen, hat mir eine bis heute unversiegbare Lebensfreude geschenkt.

Ich bin mir immer bewusst, dass ich mit guten Mächten verbunden bin – so wie Dietrich Bonhoeffer das so wunderbar in seiner berühmten, im Gefängnis geschriebenen Gebetsstrophe ausdrückt:

„Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns vom Abend bis zum Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Das darf man sich jeden Tag in Erinnerung rufen.

Vgl. Videobeitrag „Freudvolles Älterwerden – Freiheit durch Verzicht“, vom 13.11.2022

  1. Michaela Glöckler, Kita, Kindergarten und Schule als Orte gesunder Entwicklung, Erfahrungen und Perspektiven aus der Waldorfpädagogik für die Erziehung im 21. Jahrhundert, ISBN: 9783939374862.
  2. Dietrich Bonhoeffer (* 4. Februar 1906 in Breslau; † 9. April 1945 im KZ Flossenbürg) war ein lutherischer Theologe, profilierter Vertreter der Bekennenden Kirche und am deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_Bonhoeffer, ges. am 12.10.2016.