Biographie und Wiederverkörperung

„Der Leib unterliegt dem Gesetz der Vererbung; die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. [...] Und der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung, der wiederholten Erdenleben.“ 1

Ewige Ich-Identität und veränderliche Identität als Seele

Vieles im Leben – bis hin zu konkreten Krankheitssituationen – wird von unserer körperlichen Verfassung bestimmt. Mindestens genauso stark wirkt sich die seelische Betroffenheit angesichts von Vorkommnissen, Begegnungen, Möglichkeiten und Grenzen auf die eigene Biographie aus. Beide Einflussfaktoren dienen dem Menschengeist als Grundlage seiner Entwicklung in wiederholten Erdenleben. (vgl. Wesensglieder: Wirken der Wesensglieder in aufeinanderfolgenden Erdenleben).

  1. Dabei geht das Ich des Menschen, sein geistiges Wesen, durch verschiedene Erdenleben ohne seine Identität zu verlieren.

  2. Unsere Identität als Seele erstreckt sich jeweils nur über ein Erdenleben.

Die Seele ist für den Menschengeist in jedem Leben ein neuer, einmaliger Arbeits-, Bewusstwerde- und Entwicklungsraum, da sie mit ihrem Erleben an den Körper und damit an das Mann- oder Frausein, an das Lebensalter und an ganz bestimmte biographische Bedingungen gebunden ist.

Nur dem Geist – dem im Denken tätigen Menschen-Ich – ist es möglich, sich von allem Geschehen zu distanzieren, es anzuschauen, zu reflektieren und zu bearbeiten. Er kann sich während des Erdenlebens im Denken leibfrei erleben und betätigen. Er kann seine Identität in ganz verschiedenen Biographien mit ihren jeweiligen besonderen seelischen Konfigurationen wiederfinden, wenn er sich soweit seiner selbst bewusst geworden ist, dass er objektiv und selbstlos auf seine Erdenleben schauen kann.

Unangenehme Einsichten zulassen und verkraften

Würde ein Mensch unvorbereitet volle Einsicht in frühere Erdenleben bekommen, könnte er das seelisch nicht verkraften – das wäre auch dem Geist nicht dienlich. Welche dramatischen Unterschiede an Lebenserfahrung und Lebensqualität sind z.B. dem Erdenleben eines Galeerensklaven in Griechenland, einer Kammerfrau an einem mittelalterlichen Fürstenhof, dem heutigen Schicksal einer alleinerziehenden Mutter oder dem Leben eines leitenden Angestellten in einem größeren Betrieb abzulesen. Wie unterschiedlich sind die seelischen Konfigurationen und Erfahrungen, die von der ewigen Individualität des betreffenden Menschen seelisch durchlebt werden.

Es gehört viel innere Kraft dazu und auch die genannte Objektivität und Selbstlosigkeit, um sich mit einem Lebenslauf zu identifizieren, der einem nicht gefällt und von dem man nie gedacht hätte, dass man selbst ein solches Leben geführt haben könnte. Unter Umständen muss man auch Erlebnisse verarbeiten, die einen sehr betroffen machen, wenn man z.B. entdeckt, dass man in verschiedenen Leben gar kein so guter Mensch war.

Wer sich also auf solch möglicherweise unangenehme Selbsterkenntnisprozesse vorbereiten und mit der Gesetzmäßigkeit der wiederholten Erdenleben näher bekannt werden will, tut gut daran, sich nicht zu fragen, welche bedeutende Persönlichkeit er in einem früheren Leben gewesen sein könnte, sondern sich eher zu fragen:

Würdest du es aushalten zu erkennen, dass du in einem früheren Leben Grausamkeiten begangen hast?

Könntest du es aushalten zu erkennen, dass du ein Übeltäter warst?

Könntest du es ertragen zu erkennen, dass ein Mensch, mit dem du in diesem Leben größte Schwierigkeiten hast, jemand ist, den du in einem früheren Leben geschädigt hast?

Sich als Opfer vorzustellen ist bedeutend leichter, als sich mit der Rolle des Täters zu identifizieren.

Nach der Ursache für heutiges Schicksal fragen

Wer sich mit dieser unangenehmen Sicht auf sich selbst und den möglicherweise dabei auftauchenden Schmerzen ein wenig vertraut gemacht hat, kann versuchen sich zu fragen:

Was in meinem gegenwärtigen Leben könnte der gerechte Ausgleich für die unangenehmen Seiten meiner früheren Biographien sein?

Spontan neigen wir mehr oder weniger alle dazu, das Böse, das uns begegnet, als ungerecht von uns zu weisen, als ob es nichts mit uns zu tun hätte. Und so suchen wir letztlich die Schuld für ein Problem auch bedeutend lieber bei den anderen, die uns missverstehen, uns übelwollen oder ignorieren oder ähnliches. Das Gute, das uns widerfährt, nehmen wir schon eher als zu uns gehörig und gerechtfertigt hin.

Rudolf Steiner hat seine umfangreichen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Gesetze der Wiederverkörperung in den sogenannten „Karmavorträgen“ niedergelegt.2 Dort finden sich konkrete Hinweise, wie man in diesem einen Erdenleben schon Biographiearbeit für sein nächstes beginnen kann, wie man sein nachtodliches Leben vorbereiten und wie man damit ganz bewusst die nächste Verkörperung beeinflussen kann (vgl. Begabung und Behinderung: Entwicklung durch Krankheit und Behinderung). Das gilt nicht nur für die eigene Biographie, sondern auch für die uns verbundenen Menschen. Deren Leben hängt in vielem davon ab, wie wir uns ihnen gegenüber verhalten (vgl. Religion: Wie wir vergeben unsern Schuldigern). In diesem Bereich stellt das Vergeben bzw. Verzeihen eine starke Kraft dar, die das Leben dessen, der einen geschädigt hat und nun mit dieser Schuld leben muss, positiv beeinflussen kann (vgl. Das Böse - Widersachermächte: Das Böse verzeihen).3

Zukünftiges Schicksal durch Einsicht aktiv mitgestalten

Erstreckt sich die Biographiearbeit auch auf diese geistige Ebene, mündet sie unmittelbar ein in die Schulung geistiger Fähigkeiten, so wie sie in Steiners Werk „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“4 beschrieben sind. Durch diese innere Arbeit und Schulung kann man dazu befähigt werden, sich geistig in anderen Lebensumständen und Verkörperungen wiederzufinden. Tiefe Schicksalseinsichten sind dann die Folge und neue Möglichkeiten heilsamen Wirkens im Sozialen.

Eine solche innere Arbeit, wie anfänglich sie auch geübt wird, ist für das Verarbeiten der Konflikte des täglichen Lebens von unschätzbarem Wert. Denn schon allein der Gedanke, dass die Ereignisse des Lebens nicht pure Zufälle, sondern Folgen früherer Vorkommnisse sind (vgl. Schicksal und Karma: Ich-Erleben und Schicksalsgestaltung) sowie Ausgangssituationen, die erst in späteren Erdenleben ihre Fruchtbarkeit zeigen werden, kann uns helfen, mit viel mehr Ruhe und Gelassenheit auf das Leben hinzublicken. Indem wir nicht nur die Vergangenheit mit ihren Ursachen im Auge haben, sondern vor allem an die Folgen für die Zukunft denken, werden wir motiviert alles zu tun, um den Lebensvorkommnissen eine positive Wende zu geben und so zukünftiges Schicksal aktiv mitzugestalten.

Vgl. „Macht in der zwischenmenschlichen Beziehung“, 7. Kapitel, Verlag Johannes M. Mayer, Stuttgart – Berlin 1997

  1. Rudolf Steiner, Theosophie, GA 9.
  2. Rudolf Steiner, Die Offenbarungen des Karma, GA 120; vgl. auch ders.: Reinkarnation und Karma - Wie Karma wirkt.
  3. Vgl. Sergej Prokofieff, Die okkulte Bedeutung des Verzeihens. Stuttgart 1991.
  4. Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, GA 10.