Zeitgeistige Herausforderungen für Eltern
Wie ist der Trend zu bewerten, „white noises“ zur Beruhigung des Kindes einzusetzen, um die Haushaltsgeräusche, die das Kind bereits im Bauch mitbekommen hat, zu nützen?
Kindgemäße Beurteilung von Trends
In dem Moment, in dem man die Aufmerksamkeit des Kindes bindet, hat es keine Wahrnehmung mehr für seine Quellen des Unwohlseins. Das ist manchmal notwendig und angebracht. Mit dem Schnuller z.B. richtet man die Aufmerksamkeit des Kindes auf das Saugen. Das Gleiche versucht man jetzt über andere Sinne, um Wohlfühlen zu stimulieren. Diese Idee kann ich gut nachvollziehen. Das Instrument halte ich jedoch für nicht alters- und entwicklungsgerecht.
Das Kind ist ein analoges Wesen, weshalb die Stimulation nicht technikbasiert sein sollte, sondern aus der analogen Umwelt kommen sollte. Deshalb hat man früher – und das kann man heute wieder lernen – Wiegenlieder gesungen, gesummt oder Leier gespielt, bis das Kind eingeschlafen ist. Beim Sprechen und Singen erlebt das Kind wirklich Gefühle wie im Mutterleib, weil es über die fortlaufenden Vibrationen den vertrauten Sprachklang der Bezugsperson hört. Sprache lässt sich ja bis in den Blutfluss messen. Daran ist das Kind aus der Schwangerschaft gewöhnt, das beruhigt es.
Zeit füreinander nehmen
Ein weiterer Aspekt ist: Zeit füreinander zu haben. Das ist nicht nur für die Partnerschaft wichtig im Hinblick auf eine längere Beziehung, sondern ist vor allem auch für die ersten paar Jahre mit dem Kind wichtig. Es geht nicht darum, dass man den Dauerbetreuer abgibt, ganz im Gegenteil: Man muss vielmehr ein gesundes Gespür dafür entwickelt, wann das Kind Nähe braucht, um soziale Anwesenheit zu „trinken“ wie die Muttermilch, und wann es selbstzufrieden ganz für sich ist und übt, zunehmend für sich zu sein. Das wird meist völlig falsch gehandhabt. Auf der einen Seite Overprotection, Bespaßung und der Trend, das Kind überallhin mitzunehmen, und auf der anderen Seite eine Art Vernachlässigung aus Mangel an Präsenz und angemessener Zuwendung. Das sind jetzt die Extreme.
Man muss als Eltern erspüren lernen, was jedes Kind individuell braucht. Manche Kinder wollen einfach nicht bespaßt werden, sondern sich lieber in aller Ruhe dem widmen, was gerade wahrzunehmen ist – in ihnen und um sie herum. So nehmen sie die Geräusche der Umgebung wahr, sei es den Verkehrslärm in der Stadt, das Vogelgezwitscher, wenn man ländlich wohnt, oder die Gespräche und Küchengeräusche. Sie lauschen von sich aus den Geräuschen des Lebens, das ist stimmig und sinnvoll.
Vgl. Podcast „Im Gespräch mit Dr. Michaela Glöckler: Vatersein, Haltung moderner Eltern, Ideale und Kompromisse“, März 2024