Zwischen Schutzbedürfnis und Schicksalsvertrauen
Wie können Eltern einen Schutzraum für das Kind und seine Entwicklung bilden?
Wie können sie traumatisierende Erfahrungen heilend begleiten?
Vertrauen in das Schicksal des Kindes haben
Wenn aus Schicksalsgründen bestimmte Ereignisse und Unfälle passieren müssen, können Eltern weder davon wissen noch es verhindern. Die Zukunft kommt dem Menschen wie entgegen und das Kind träumt sich in sie hinein, weiß auch noch nichts von, was kommt. Deshalb halte ich es für das Allerwichtigste, das Urvertrauen, das das Kind uns entgegenbringt, mit dem Schicksalsvertrauen in den Schutzengel dieses Kindes zu erwidern. Eltern sollten sich jeden Anflug von Angst und Sorge verbieten. Denn jedes Kind hat sein Schicksal, das kann von niemandem geändert werden, auch wenn man das noch so sehr möchte. Das Schicksal ist im Grunde das Heiligtum jeder Biografie (vgl. Biographiearbeit: Biographiearbeit als Weg zu Christus).
Das geht soweit, dass wir uns klarmachen müssen, dass wir unsere Individualität, unser Ich, unser Sosein, unserem Schicksal verdanken und nicht den Genen und den Milieueinflüssen. Das weiß man spätestens seit den 90er Jahren. Mir hat ein Buch von Robert Plomin und Judy Dunn die Augen dafür geöffnet.1 Ich hatte in meinem Studium noch gelernt, dass wir uns selbst zur Hälfte den Genen und zur Hälfte dem Milieu, in dem wir aufwachsen, verdanken. Die beiden Autoren erkannten, dass das nicht stimmt, da Geschwister, die ja dasselbe Erbgut und Milieu teilen, sogar eineiige Zwillinge, sich sehr unterschiedlich entwickeln aufgrund ihres Schicksalsweges.
Die Epigenetik hat uns gezeigt, dass sich das Erbgut verändern kann. So weiß man, dass Fieber immunstimulierend wirkt und dass das Immunsystem das Erbgut verändern kann – positiv oder negativ, je nachdem wie der kindliche Organismus damit umgehen kann.
Respekt und Interesse gegenüber dem Schicksal des Kindes
An solchen Punkten erkennt man, dass das Schicksal ein Heiligtum ist. Es ist eine Haltungsfrage zu fragen:
Wie werde ich ein guter Schicksalsbegleiter und werde nicht übergriffig, sondern habe Respekt vor dem Schicksalsweg meines Kindes?
Dazu ein persönliches Beispiel: Im Jugendalter hatte ich einen ziemlichen Durchhänger, weil ich glaubte, dass aus mir nichts werde. Dann fragte ich meinen Vater, was er von mir erwartete und er antwortete: Nichts. Dann muss er mein erschrecktes Gesicht gesehen haben und ergänzte: „Aber ich bin gespannt, was mal aus dir wird.“ Über diese Worte erlebte ich die Haltung des In-Freiheit-Entlassen-Werdens nach der Pubertät. Der Erwachsene muss in dieser Phase den Übergang schaffen und seine Vorschläge und Ratschläge zurückhalten. Auf Fragen sollte ehrlich geantwortet werden, aber Eltern sollten nicht ungefragt ständig in das Schicksal ihres Kindes hineinfunken, auch nicht in bester Absicht.
Konstruktiver Umgang mit negativen Erfahrungen
Ein Gedanke noch zum Umgang mit negativen Erfahrungen: Aus der Trauma-Forschung weiß man, dass traumatischen Erfahrungen so schnell wie möglich positive Erfahrungen an die Seite gestellt werden sollten. Deshalb sind Trauma-Teams in allen Kriegs- und Krisengebieten unterwegs, um traumatisierten Kindern positive Erlebnisse anzubieten, vor allem durch künstlerisches kreatives Tun in einem spielerischen Kontext. Durch kreative Eigenaktivität lernt das Gehirn das Negative zu kompensieren.
Jeder von uns muss im Leben schlimme und gute Erlebnisse verdauen. Wer ohne Frustrationstoleranz und ohne Kompensationsmöglichkeiten aufwächst, weil alles Schlechte von ihm ferngehalten wird, wird nicht gut begleitet. Das bedeutet aber nicht, dass wir künstliche Stressoren setzen sollten – das wäre genau das Falsche. Aber wenn das Schicksal etwas Traumatisches vorgesehen hat und das Kind es erlebt, ist das Schicksal.
Das Wichtigste ist hier die Haltung des Schicksalsbegleiters, der Vertrauen in das Schicksal des Kindes hat, das sich das offensichtlich so kompliziert ausgesucht hat. Ich kann nur versuchen den Schaden zu minimieren, aber aus einer vertrauensvollen, das Schicksal bejahenden Haltung heraus. Und nicht aus einer ängstlichen Attitüde, damit das Kind nicht die Ängstlichkeit nachahmt, sondern vielmehr das Schicksalsvertrauen.
Urvertrauen und Schicksalsvertrauen
Der Begriff Urvertrauen kommt aus der Psychologie und bezeichnet das Vertrauen, das Kinder brauchen und nur entwickeln können, wenn sie sich in einer sicheren menschlichen Beziehung beheimaten. Ohne das entsteht kein Urvertrauen. Es entwickeln zu können, bringen Kinder als Begabung mit, aber sie können es nur, wenn die Bedingungen stimmen. Die muss man als Erwachsene schaffen.
Schicksalsvertrauen muss man sich als Erwachsener selbst erarbeiten. Die meisten Menschen haben vor ihrem eigenen Schicksal Angst und noch mehr vor dem ihres Kindes, weil sie mit sich und ihrem Leben nicht im Reinen sind. Deshalb ist ihr Fokus auf das gerichtet, was alles passieren könnte. Ich übertreibe jetzt bewusst. Man projiziert die eigene Schicksalsängstlichkeit ins Kind und an dieser Stelle wird es einem möglicherweise bewusst. Deshalb braucht es auch hier die Fähigkeit zur Selbstreflexion, um das Verhältnis zum eigenen Schicksal zu klären, z.B. über Biografiearbeit (vgl. Biographiearbeit: Was anthroposophische Biografiearbeit vermag).
Allem voran wäre es wichtig, das Schicksal aus dem Zufallsgefängnis zu befreien. In der Wissenschaft wird anstelle der Individualität der Faktor X gesetzt und anstelle des Schicksals der Zufall, weil Geistiges ja nicht existiert (vgl. Biographiearbeit: Zufall und Schicksal): Wir kommen aus dem Urknall und enden im Wärmetod – einfacher kann man ein Weltbild nicht stricken! Ich wundere mich immer, dass so etwas anerkannt wird. Das ist alles nicht bewiesen, sind Projektionen von irgendwelchen Experimenten, haben aber null Bezug zur Realität und zum realen Entwicklungsgeschehen dieser Schöpfung, in der wir leben. Aber man darf natürlich so denken! Ich bin auf dem Gebiet für Freiheit und freue mich über jeden Materialisten, der sich die Erzählung so strickt, wie es seiner Gesinnung entspricht.
Meine Erzählung ist eine andere. Ich finde es wichtig eine spirituelle Blickrichtung zu haben. Ich sehe den Durchgang durch die Materie auf der Erde als einen Weg zur Entwicklung von Freiheit, Liebe und Autonomie – und zur Entwicklung von Bewusstsein, wer ich als Mensch überhaupt bin (vgl. Menschheitsentwicklung: Individualisierung als Entwicklungsmotiv). Wir müssen unsere eigene Identität doch erst bestimmen lernen. Wenn man das ein wenig überschaut, entwickelt man Vertrauen in das eigene Schicksal. Dann hat man auch die freudige, erwartungsvolle und auch durchaus schützende Haltung, da wo man es vermag, in das Schicksal des Kindes.
Vergangenes und zukünftiges Schicksal
Das sogenannte Schicksal ist in manchen Situationen tatsächlich zwingend. Z.B. befindet sich der Mensch von der Empfängnis an in einer bestimmten Lebenssituation und kann nicht daraus ausbrechen. Er kann ja nicht in einen anderen Mutterleib wechseln. In dieser Situation hat man keine Entscheidungskompetenz. Kurz gesagt: Das Schicksal aus der Vergangenheit gibt uns die Bedingungen für unser Dasein vor. Wie ich aber damit umgehe in der Gegenwart und im Hinblick auf die Zukunft, wird nicht vom Schicksal bestimmt. Wer das nicht merkt, macht sich zum Opfer seiner Vergangenheit und gibt damit seine Zukunft schaffende Freiheit und damit auch sich selber auf.
Goethe hat das sehr gut erkannt, da es im „Faust“ immer darum geht, wie man den Augenblick lebt: Bin ich ganz gegenwärtig, bin ich mein Schicksalsgestalter. Deswegen haben wir Menschen Ideale, durch die wir Zukunft antizipieren. Aus diesen Idealen, wie man werden will, was man tun, was man der Welt geben, was man den Kindern und der Frau geben will – das ist alles Zukunftsmusik. In der Gegenwart brauche ich aber diese wunderschöne Zukunftsmusik, um den Augenblick konstruktiv verarbeiten zu können im Hinblick auf diese Zukunft (vgl. Ideale: Ideale als Kraftquelle). Mein Startkapital dabei ist jedoch meine Vergangenheit.
Vgl. Podcast „Im Gespräch mit Dr. Michaela Glöckler: Vatersein, Haltung moderner Eltern, Ideale und Kompromisse“, März 2024
- Judy Dunn, Robert Plomin, Warum Geschwister so verschieden sind, Stuttgart 1996.